Nelson Mandela wird 90:Die Kraft der Freiheit

Nelson Mandela hat Grenzen überwunden, die als unüberwindbar galten. Auch nach knapp 30 Jahren im Gefängnis glaubt er an Gerechtigkeit, nicht an Vergeltung.

Arne Perras, Johannesburg

Kinder. Immer wieder sind es die Kinder, deren Nähe der große alte Mann nun sucht. So ist es auch am vergangenen Samstag, als seine schwarze Limousine durch Soweto rollt. Es ist Winter im Süden Afrikas, am Straßenrand drängen sich aufgeregte Menschen, sie singen und kreischen. Endlich öffnet sich die Wagentür, heraus steigt ganz langsam Nelson Mandela.

Nelson Mandela; dpa

Sein Leben hat er dem Kampf für Freiheit und Gerechtigkeit verschrieben: Nelson Mandela.

(Foto: Foto: dpa)

Sein Haar ist schon seit vielen Jahren weiß, er trägt einen schwarzen Mantel, er hebt die Hand und winkt. Doch dann beugt er sich schon hinunter zu den Kindern, die einzeln vor ihn hintreten dürfen und vor lauter Stolz manchmal kein Wort herausbringen. Er fasst ihre Hände, er spricht mit sanfter Stimme, als würde er das schubsende und schiebende Knäuel aus Kameraleuten, Fotografen und Leibwächtern um ihn herum gar nicht bemerken.

Eine leuchtende Ikone

Er hat noch immer dieses unverwechselbare Lächeln. Was heißt Lächeln. Es ist viel mehr als das. Es ist seine Art, der Welt zu begegnen. Und wer in diesem Moment einen Blick auf Mandela erhascht, der sieht, welche Zufriedenheit in diesem Gesicht ruht. Er ist schon sehr schwach auf den Füßen, er bleibt nur kurz. Aber dennoch strahlt der Mann eine Zuversicht aus, wie sie wohl nur wenigen gegeben ist.

Mandela wird an diesem Freitag 90 Jahre alt - ein Mann, der 27 Jahre seines Lebens im Gefängnis verbrachte und doch nie aufgegeben hat, an den Sieg der Gerechtigkeit zu glauben. Ein Mann, der den Widerstand gegen die Apartheid anführte, der spät triumphierte und doch nie auf Vergeltung sann. Denjenigen, die sein Volk unterdrückt und gedemütigt hatten, reichte Mandela die Hand. "Wer Hass verspürt, kann nicht frei sein", hat er einmal gesagt.

Mandela ist mehr als der Vater seiner Nation. Er ist eine Ikone, die über alle Grenzen hinweg leuchtet. Und nun, an seinem Geburtstag, wird sich die Welt noch einmal vor ihm verneigen.

"Der Vater einer Nation zu sein, ist eine große Ehre", schreibt Mandela in seiner Autobiographie, "doch der Vater einer Familie zu sein ist eine größere Freude." Von dieser Freude habe er doch viel zu wenig gespürt, sagt er. Das ist untertrieben. Denn Mandela hat - wie seine Familie - schwer darunter gelitten, dass er für die Seinen nicht da sein konnte. Darin liegt denn auch die große Tragik, die dieses Leben zeichnet. Eine Tragik, die leicht zu übersehen ist in all dem Glanz, der dem Freiheitskämpfer Mandela gebührt.

Das weiße Minderheiten-Regime hatte keine Skrupel, den Vater drei Jahrzehnte lang von seiner Familie zu trennen. Wenn er nun diese Kinderhände drückt, so mag ihn dies mit einer Freude erfüllen, wie sie nur einer wie er verspüren kann. Einer, der niemanden hatte, den er umarmen, dessen Wärme er spüren konnte.

27 Jahre. Was hält einen aufrecht in all dieser Zeit? Was gibt einem Menschen diese Zuversicht? Lässt sich das Geheimnis Mandelas überhaupt lüften? Der Mann ist längst ein lebender Mythos, und selbst Historiker flüchten sich in wolkige Sätze, um Mandela einzufangen: "Die Menschlichkeit bringt von Zeit zu Zeit bemerkenswerte Menschen hervor", schreibt Basil Davidson. Das ist schön gesagt - und doch sehr vage.

Rolihlahla, der Unruhestifter

Vielleicht gibt es ja doch einige Schlüssel, denen man auf die Spur kommen kann. Einer davon mag in den sanften grünen Hügeln von Transkei verborgen liegen, wo Mandela am 18. Juli 1918 geboren wird. Er entstammt dem Madiba-Clan des Xosa-Volkes, die weißen Herren regieren damals durch ein System der "indirekten Herrschaft", in dem sie versuchen, traditionelle Führer für ihre Zwecke zu nutzen. Mandelas Vater ist ein Dorfchef, er regiert mit Macht und mit Respekt, er muss, wie in Afrika üblich, lange zuhören und debattieren, bevor er eine Entscheidung fällt. Es geht darum, Einigkeit zu erzielen. Das ist der Sinn der Räte und Versammlungen, die das Oberhaupt einberuft.

Der Sohn erhält den Namen Rolihlahla, was so viel bedeutet wie: "Der Unruhestifter". Mandela hat dies nie als Vorsehung betrachtet. Als Bub hütet er Schafe und Kälber. Als Hirte führst du die Herde von hinten, wird sich Mandela erinnern. Du musst jeden auf dem Weg mitnehmen, ihn dazu bringen, deine Richtung einzuschlagen. Du musst den Kontakt halten, um sie zusammenzuhalten.

Lesen Sie auf der nächsten Seite über den jungen Anwalt Mandela, seine neue Liebe und einen folgenreichen Urteilsspruch ...

Die Kraft der Freiheit

Auf der Missionsschule in Qunu können sie seinen Namen nicht aussprechen, also sagen sie: "Dein Name ist jetzt Nelson." Seine privilegierte Herkunft hilft Mandela, sich zu bilden. Er besucht eine höhere Schule, schließlich darf er in Fort Hare studieren, der ersten und einzigen Universität, die Schwarze damals zulässt. Mandela wählt das Fach Jura.

Nelson Mandela; AP

Nelson Mandela als junger Anwalt in den frühen 60er Jahren.

(Foto: Foto: AP)

Er findet neue Freunde. Zum Beispiel den Griechen George Bizos, der im Zweiten Weltkrieg vor den Nazis geflohen ist. Wie Mandela wird Bizos Anwalt - und er praktiziert noch immer. Man findet ihn heute über seinen Büchern brütend, im neunten Stock eines Hochhauses am Gandhi Square, Johannesburg. Bizos ist 80 Jahre alt und ein überaus freundlicher Herr, er kenne Mandela nun schon seit mehr als 60 Jahren, sagt er. Und es sei schnell zu sehen gewesen, dass dieser Mann ein besonderes Talent besaß: "Er hatte das Zeug dazu, Menschen zu führen."

Mandela, der junge Anwalt: Er ist groß, er sieht blendend aus, er hat eine gewinnende Art, er wirkt dynamisch und entschlossen, und doch nicht herrisch. Es ist nicht so, als würde er in diesen Tagen nur die Politik im Kopf haben. Mandela ist der Schwarm der Frauen, er ist ein junger Township-Held, er liebt es, zu tanzen und zu boxen.

Aber all das kann ihn nicht von seinem großen Ziel abbringen, es zieht ihn in den Widerstand. Seine erste Frau Evelyn ist nicht glücklich. Sie schwärmt für die Zeugen Jehovas, von Politik will sie nichts wissen. Die Ehe scheitert.

Studieren im Steinbruch

Kurz darauf findet Mandela eine neue Liebe: Winnie, die Sozialarbeiterin. Auch sie will kämpfen für die Rechte der Schwarzen, und sie wird später akzeptieren, dass ihr Mann "mit dem Freiheitskampf verheiratet ist", wie er sagt.

Mandelas Herz schlägt jetzt ganz für den African National Congress (ANC). Bald schon führt er den Widerstand der Jugend, und er weiß um die Warnung der Älteren. Wenn du diesen Weg weitergehst, sagen sie, riskierst du dein Leben. Und so kommt es auch. Mandela ist bald aufgerückt in die Spitze der Anti-Apartheid-Bewegung, und als Pläne für den bewaffneten Untergrundkampf auffliegen, wird er mit einigen anderen vor Gericht gestellt. Sie gelten als Terroristen, ihnen droht die Todesstrafe.

Am 11. Juni 1964 spricht sie der Richter schuldig. Die Männer glauben, dass sie hängen müssen. Auch die Verteidiger, unter ihnen George Bizos, denken das. Die Nacht wird zur Qual, doch am Morgen schreckt die Apartheid-Justiz doch vor dem Äußersten zurück. Sie lässt, wie das der Richter nennt, Milde walten: Lebenslange Haft. Im Saal bricht Jubel aus.

So bleibt Mandela am Leben. Doch schon in der Nacht fliegen sie die Gefangenen nach Robben Island vor die Küste am Kap. Es wird dies die härteste Prüfung seines Lebens sein. Und doch wird sie ihm, so seltsam es klingt, 27 Jahre später nützen. Als es darum geht, die spät befreite Nation im Zaum zu halten, hat Mandela so viel moralische Autorität gewonnen, dass ihn niemand in den eigenen Reihen mehr herausfordern kann. Er führt durch die Kraft seines Ansehens: Wenn ich verzeihen kann, dann könnt ihr es auch - das ist seine Botschaft. Das ist es, was Mandela später so stark macht.

Die Insel, das Gefängnis, Zelle Nummer Sieben: Nackter Boden, eine Gittertür, ein Gitterfenster. Ein roter Eimer für die Notdurft in der Nacht. Zwei Matten, vier Decken. Mandelas Zelle hat bis heute überlebt, sie gehört nun zum Museum auf Robben Island, Hunderte Besucher pilgern täglich dorthin, um einen Blick durch die weißen Gitterstäbe zu werfen.

Mit drei Schritten kann der Gefangene Mandela die Zelle der Länge nach durchmessen. Die Zwinger für die Wachhunde bieten mehr Platz. Mandela hat die Nummer 466/64. Das bedeutet, dass er als 466. Häftling 1964 auf die Insel gekommen ist. Wenn er sich schlafen legt, stößt er mit dem Kopf an die eine Wand und mit den Füßen an die andere.

Im Traum sieht Mandela manchmal Winnie, seine Frau. Sie tanzt vor ihm, sie dreht sich vor ihm, sie ist wunderschön.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, wie Mandelas Familie mit seiner Haft umging und wie sein Leben auf Robben Island aussah ...

Die Kraft der Freiheit

Nelson Mandela KOnzert dpa

Auch mit 90 Jahren setzt sich Nelson Mandela noch für den Kampf gegen Aids und Armut ein - hier bei einem Wohltätigkeitskonzert im Londoner Hyde Park am 28. Juni.

(Foto: Foto: dpa)

Anfangs gehört er zur Kategorie D. Das ist die unterste Stufe. Einer in D darf alle sechs Monate einen Brief schreiben und einen von draußen empfangen. Dazu ist ein Besucher erlaubt - einer im halben Jahr. Wenn Winnie kommt, sind sie durch eine Glasscheibe getrennt. Auf jeder Seite stehen Wachen, die lauschen. Nur über Privates dürfen sie reden. Auch die Briefe, die Mandela schreibt, werden zensiert, genau wie die, die er bekommt. Entdeckt ein Zensor Passagen, die verboten sind, greift er zur Schere und schneidet sie heraus. Manche Briefe haben mehr Löcher als Worte.

Mandela und die anderen sind nun keine Führer mehr, wie Weggefährte Ahmed Kathrada sagt. Der Kampf gegen die Apartheid wird draußen geführt, auf den Straßen, in den Townships, es ist ein harter Kampf, von dem wenig hereinsickert ins Gefängnis. Die Führer sind in diesen Jahren andere, sie steuern den Widerstand aus dem Exil. Aber Mandela und seine Kameraden sind nicht vergessen, sie sind Symbol der Unterdrückung und des Widerstands zugleich. Diese Männer müssen irgendwann freikommen, das treibt die Menschen draußen an.

Zindzi, Mandelas zweite Tochter mit Winnie, ist 18 Monate alt, als der Vater ins Gefängnis muss. Bei seiner Freilassung ist Zindzi 29 Jahre alt und Mutter von drei Kindern.

Leid einer Tochter

Es ist der 12. Juli 2008 in Soweto, und Zindzi hat gerade die Lobrede der liberianischen Präsidentin auf ihren Vater gehört. Zindzi kommt aus dem Festsaal, sie trägt eine Pelzmütze und ein schwarzes Kostüm mit Leopardenkragen. "Diese Momente machen mich sehr stolz", sagt sie. Aber ihr Gesicht spricht eine andere Sprache. Sie wirkt teilnahmslos, als sei sie gar nicht hier.

Zindzi hat viel gelitten, wie ihr Vater. Die Regeln auf Robben Island schrieben vor, dass Kinder nicht zu Besuch kommen durften. Erst mit 16 Jahren war dies erlaubt. Bei ihrem ersten Besuch hat sie gezittert. Wie würde er sein, dieser Vater, den sie nie gesehen hat? So viele Jahre gingen verloren, die nicht mehr aufzuholen waren. Und die Distanz zwischen Tochter und Vater ist nie mehr ganz gewichen, wenn man einer Frau glauben darf, die den Mandelas nahe steht.

Robben Island, der Steinbruch: Öde liegt der Krater aus weißem Kalk heute in den Hügeln. Eisige Böen pfeifen, ansonsten ist es still in diesem großen Loch. Hier hat Mandela Steine geklopft. 13 Jahre lang. "Juni und Juli waren die ödesten Monate auf Robben Island", schreibt er. Regen. Kälte. "Es schien nie wärmer zu sein als fünf Grad Celsius. Selbst in der Sonne zitterte ich in meinem leichten Khakihemd." Im Sommer ist es heiß, der weiße Kalk blendet. Sie beantragen Sonnenbrillen. Es dauert drei Jahre, bis sie genehmigt werden.

Mandela nutzt die freie Zeit, um zu studieren. Jeden Abend sitzt er über den Büchern. Und er hat die Gabe, sich an kleinen Dingen zu erfreuen. Er hegt ein Gärtchen, er pflanzt, er gießt. Das sprießende Grün richtet ihn auf.

Nicht nur Mandela studiert, auch die anderen Gefangenen verwandeln das Gefängnis in ihre Universität. Im Steinbruch wird gehämmert, aber auch gelehrt und gelernt. "Wenn die Wachen uns nicht hörten, konnten wir alles besprechen, was wir wollten", erinnert sich Ahmed Kathrada, Mandelas enger Freund. "Wir wurden zu unserer eigenen Fakultät, mit eigenen Professoren, eigenem Lehrplan und eigenen Seminaren", schreibt Mandela.

Auf der Insel arbeitet noch heute Christo Brand, einer der Wächter, die Mandela zugeteilt waren. Zwölfeinhalb Jahre hat er ihn beaufsichtigt. Brand kümmert sich heute um die Kioske auf der Insel, vor ein paar Monaten hat ihn Mandela zu sich eingeladen. Sie haben geredet über Gott und die Welt, und wie es so läuft, draußen auf der Insel. "Wir sind Freunde geworden", sagt Brand. Trotz allem.

Ja, manchmal überfalle ihn ein Gefühl der Scham, wenn er an seine Arbeit von damals denke. "Ich habe mich nie sehr für Politik interessiert, für mich war das halt nur ein Job." Aber im Laufe der Jahre habe er doch öfters gedacht: "Es ist falsch, was wir da tun."

Niemals würde Mandela vor den Wächtern Schwäche zeigen. Einmal sieht Brand ihn weinen - aber nicht aus Verzweiflung. Winnie ist zu Besuch gekommen, sie hat den Enkel am Körper unter Decken versteckt, sodass den Wächtern das Kind nicht aufgefallen ist. Mandela bekommt es mit, nun will er das Kind unbedingt halten. Doch das ist gegen die Regeln. Brand fragt seinen Chef, der schließlich einwilligt. Aber nur, wenn Winnie davon nichts erfährt. Brand muss nun tricksen, er sagt der Frau, sie solle schon mal rübergehen und die Papiere für den nächsten Besuchsantrag ausfüllen. Er könne ja das Baby halten. Widerwillig gibt Winnie den Enkel her, Brand verschwindet durch die Tür. Auf der anderen Seite wartet Mandela. Er küsst seinen Enkel, er drückt ihn fest, Tränen laufen über sein Gesicht. Doch es ist nur ein Funke des Glücks. Sekunden später ist er wieder allein.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, wie die Welt auch heute noch auf den großen alten Mann hört ...

Die Kraft der Freiheit

Nelson Mandela Ehefrau Winnie 1990; Reuters

Nach 27 Jahren wird Nelson Mandela am 11. Februar 1990 aus der Haft entlassen - eine ganze Nation jubelt, mit ihr Mandelas damalige Ehefrau Winnie.

(Foto: Foto: Reuters)

Nach 18 Jahren auf Robben Island wird Mandela aufs Festland verlegt. 1984 erlaubt die Regierung erstmals sogenannte Kontakt-Besuche. Im Mai fallen sich Nelson und Winnie in die Arme. Es ist das erste Mal in 20 Jahren, dass sich die beiden berühren dürfen.

Sein politischer Instinkt ist trotz der Qualen lebendig geblieben. Was von draußen hereinsickert, macht ihm Mut. Der äußere Druck auf das Apartheid-Regime schwillt an, Sanktionen setzen der Regierung zu. Und plötzlich wird Mandelas Isolation zur großen Chance für Südafrika. Er entschließt sich, geheime Verhandlungen mit dem Gegner zu führen, er spürt, dass sie ihrem Ziel immer näher kommen. Mandela handelt eigenmächtig, ohne das Wissen der ANC-Führung im Exil. Es ist ein Risiko, aber es hat auch einen Vorteil: Wenn die Sache schiefgehen sollte, würde der ANC eine Ausflucht haben. Der Alte hat ja alleine gehandelt.

Meister der großen Geste

Dann endlich, der Durchbruch: Präsident Frederik Willem de Klerk überbringt Mandela die Nachricht, dass er freikomme. Am 11. Februar 1990, 16.14 Uhr, geht der Gefangene Nummer Eins durch das Tor des Gefängnisses Victor Verster. Nach 27 Jahren ist Nelson Mandela frei. Und Südafrika auf dem Weg, die Knechtschaft von Jahrhunderten abzustreifen.

Die Welt jubelt. Doch es folgen unruhige Zeiten bis zu den freien Wahlen 1994, die Mandela zum Präsidenten machen. Sein Geschick und seine Autorität ist unerlässlich, um einen Bürgerkrieg zu verhindern, um ethnische Spannungen zu mildern und aufflammenden Hass zu bändigen. Mandela predigt Versöhnung und Versöhnung und Versöhnung. In die Freiheitscharta von 1955 hatten sie geschrieben: "Südafrika gehört allen, die darin leben, Schwarzen und Weißen." Dies war ein Prinzip, es durfte jetzt, im Moment des Triumphes, nicht verraten werden.

Keiner ackert dafür so wie Mandela. Wenn er je Bitterkeit über seine Zeit im Gefängnis empfunden hat, dann zeigt er sie jetzt nie. Die Jahre hinter Gittern haben ihn nicht zerbrochen, sondern gefestigt. Er lässt sich niemals gehen.

So wird Mandela zum Meister der großen Geste. Er lädt Witwen und Frauen der Apartheidführer zum Tee. Er diniert mit dem pensionierten Staatsanwalt Percy Yutar, der einst die Todesstrafe für ihn forderte. So schafft er Vertrauen unter jenen, die Vergeltung fürchten. Die Regenbogennation, in der alle gleiche Rechte haben, bleibt seine Vision. Im Dezember 1993 erhalten Mandela und De Klerk den Friedensnobelpreis.

In der Familie laufen die Dinge indes nicht gut. Die Töchter haben damit zu kämpfen, dass Mandela nun Vater der Nation ist, und doch nie Zeit hatte, ihr Vater zu sein. Die Ehe mit Winnie zerbricht, Mandelas Frau ist hart und herrisch geworden in all den Jahren des Kampfes, sie ist immer noch Heldin in den Townships, aber sie hat brutale Bodyguards um sich geschart, und sie verfällt jungen Liebhabern. Wegen Entführung, die zum Mord eines Jungen führt, muss Winnie vor Gericht. Mandela stützt sie noch lange, doch 1996 werden die beiden geschieden.

Acht machtvolle Worte

Im Laufe seiner Präsidentschaft konzentriert sich Mandela immer stärker auf zeremonielle Aufgaben, um Südafrikas Ruf als Demokratie zu festigen und das Land zurückzuführen in den Kreis der Staatengemeinschaft. Das politische Tagesgeschäft übernimmt nun oft sein Vize Thabo Mbeki, der ihm 1999 auch als Präsident nachfolgen wird. Die Menschen feiern ihre Freiheit, doch die Erwartungen an die neue Regierung sind gewaltig. Überall fehlen Wohnungen, Schulen und Krankenhäuser, die Leute brauchen Arbeit und eine Perspektive, um aus der Armut zu kommen. Manches schiebt Mandela noch selbst an, doch auch er kann nicht verhindern, dass Korruption, Missmanagement und Machtkämpfe im ANC den Fortschritt in Südafrika bremsen. Das Erbe Mandelas gerät in Gefahr.

Mandela hat die Größe, auch Fehler zuzugeben. Zu spät habe er begonnen, gegen HIV und Aids zu Felde zu ziehen, sagt er einmal. Auch deshalb gründet er einen Fonds für Kinder und eine Stiftung, die in Bildung und Gesundheit investiert.

Seine größte Tat als Präsident ist es vielleicht, nach einer Amtsperiode zu gehen. Mandela weiß um den Drang vieler Führer, sich an die Macht zu klammern. In Afrika ist dieser Drang besonders stark. Er setzt einen Kontrapunkt. Er bleibt sich treu.

Interviews gibt Mandela schon lange nicht mehr, er brauche Zeit für die Familie, sagt er. Er hat nun Graca Machel als stützende Ehefrau, die Witwe des mosambikanischen Präsidenten. Vor einigen Jahren hat Mandela eine Krebserkrankung besiegt, seine Gesundheit ist nun ein wohl gehütetes Geheimnis.

Je älter er wird, desto größer wiegt nun jedes seiner Worte. Mal wünscht er sich, dass sein Nachfolger etwas väterlicher sein könnte. Südafrikas Präsident Thabo Mbeki regiert abgehoben, das Volk versteht ihn nicht. Und jüngst hat Mandela acht Worte zu Simbabwe gesagt. Er beklagt das "tragische Versagen der Führung in unserem benachbarten Simbabwe". Der Satz wirkt beinahe banal, doch sie kommen von Mandela und rasen um die Welt. Der große alte Mann hat gesprochen, gegen Robert Mugabe und dessen Regime.

Wenn er nun am Freitag seinen 90. feiert, kehrt er zurück an den Ort seiner Kindheit. Im Kreis der Familie will er sein, mit wenigen Freunden und Würdenträgern seiner Heimat. Er wird über die Hügel von Qunu blicken, und vielleicht noch mal zu dem flachen Felsen pilgern, den er als Junge so gerne hinunterrutschte. Immer und immer wieder.

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