Mitarbeiter des Kremlkritikers Alexej Nawalny stufen die Nachricht über dessen Tod als glaubwürdig ein. Man gehe davon aus, dass es "höchstwahrscheinlich so passiert ist, dass Alexej Nawalny getötet wurde", sagte der im Exil lebende Direktor von Nawalnys Anti-Korruptions-Stiftung, Iwan Schdanow, während einer Liveschalte auf Youtube. "Wir werden euch keine Lügen erzählen darüber, dass es irgendeine Hoffnung gibt, dass sich morgen herausstellt, dass das nicht wahr ist", so Schdanow, "eine solche Chance ist geringfügig." An seiner Seite saß Nawalnys Sprecherin Kira Jarmysch.
Zuvor hatten russische Medien mit Verweis auf die Gefängnisverwaltung des nordrussischen Gebietes Jamal-Nenzen über den Tod des prominentesten Kritikers der russischen Führung berichtet. Nawalny habe sich nach einem Gang im Freien am Freitag "unwohl gefühlt" und "fast sofort das Bewusstsein verloren". Es sei medizinisches Personal herbeigerufen worden, das jedoch nicht in der Lage gewesen sei, Nawalny wiederzubeleben. Die Todesursache werde derzeit ermittelt.
Der Kreml hat nach eigenen Angaben keine Informationen über die Ursache des Todes. Die Strafvollzugsbehörde unternehme alle Untersuchungen, erklärte Kremlsprecher Dmitrij Peskow. Der russische Präsident Wladimir Putin wurde laut Nachrichtenagentur Tass über den Tod Nawalnys informiert.
US-Präsident Joe Biden machte Putin für den mutmaßlichen Tod Nawalnys verantwortlich. Man wisse zwar nicht genau, was passiert sei, aber es gebe keinen Zweifel daran, dass der Tod Nawalnys eine Folge von Putins Handeln und dem seiner "Verbrecher" sei, sagte Biden im Weißen Haus. "Putin ist verantwortlich." Biden sagte weiter, er sei angesichts der Nachricht von Nawalnys Tod schockiert, aber nicht überrascht.
Putin habe Nawalny vergiftet, ihn verhaften und wegen erfundener Verbrechen anklagen lassen, sagte der US-Präsident. Er habe ihn in Isolationshaft gesteckt. Doch all das habe Nawalny nicht davon abgehalten, Lügen anzuprangern, sogar im Gefängnis. "Er war eine mächtige Stimme für die Wahrheit." Biden fügte hinzu: "Er hätte sicher im Exil leben können nach dem Attentat auf ihn 2020, das ihn fast umgebracht hätte." Doch Nawalny habe "so sehr" an sein Land geglaubt.
Nawalny war unter anderem wegen angeblichem "Extremismus" zu insgesamt 19 Jahren Lagerhaft verurteilt worden. Seine politische Bewegung wurde verboten, enge Mitarbeiter wurden inhaftiert oder flohen ins Ausland. International jedoch wird der Politiker, der 2020 nur knapp einen Mordanschlag mit dem Nervengift Nowitschok überlebte, als politischer Gefangener eingestuft. Menschenrechtsorganisationen forderten seit Langem Nawalnys Freilassung. Nachdem er in Deutschland nach dem Giftanschlag behandelt worden war, kehrte Nawalny am 17. Januar 2021 nach Russland zurück - und wurde noch am Flughafen verhaftet.
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) sprach Nawalnys Familie sein Beileid aus. "Wir sind sehr bedrückt, wir sind bei der Familie, der Frau und dem Kind, und all den Angehörigen und Freunden", sagte er in Berlin. Der Tod des Dissidenten sei "etwas ganz Furchtbares" und diene auch als Zeichen, wie sich Russland verändert habe. "Nach den nun schon lange zurückliegenden hoffnungsvollen Entwicklungen in Richtung Demokratie, ist das längst keine Demokratie mehr", sagte er. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron schrieb bei X: "Im heutigen Russland werden freie Geister in den Gulag gesteckt und dort zum Tode verurteilt."
Nawalnys Frau Julija Nawalnaja rief die Welt auf der Münchner Sicherheitskonferenz zum Kampf gegen die russische Regierung auf. "Das Regime soll die Verantwortung übernehmen", sagte sie zu der Meldung vom Tod ihres Mannes.
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Schon im vergangenen Dezember war der als politischer Gefangener eingestufte Politiker über mehrere Wochen verschwunden. Im Nachhinein kam heraus, dass die Justiz ihn aus dem europäischen Teil Russlands in ein Straflager im hohen Norden Sibiriens verlegt hatte. Nawalny vermutete, dass er dort vor der anstehenden Präsidentenwahl im März möglichst isoliert werden sollte.
Die sibirische Haftanstalt gilt als eine der härtesten in Russland. Im Januar hatte Nawalny bei einer Gerichtsanhörung bessere Haftbedingungen gefordert. Unter anderem seien die Essenspausen zu kurz. "Ich bekomme zwei Becher kochendes Wasser und zwei Stücke ekelhaftes Brot. Ich möchte dieses kochende Wasser normal trinken und dieses Brot essen. Ich habe zehn Minuten Zeit zum Essen. Und ich werde gezwungen, mich an diesem kochenden Wasser zu verschlucken", beklagte er damals und wirkte abgemagert. Er nutzte die Gerichtsauftritte nicht zuletzt auch zur beißenden Kritik an Putins autoritärem System und Moskaus Krieg gegen die Ukraine.
"Wie groß doch selbst die Angst des Machtapparates vor einem Toten ist"
Viele Russen äußern nach dem Tod Nawalnys öffentlich ihre Wut und Trauer. "Wie groß doch selbst die Angst des Machtapparates vor einem Toten ist, wenn sogar das Ablegen von Blumen zu seinem Andenken als Verbrechen angesehen wird", schrieb der russische Friedensnobelpreisträger und Gründer der kremlkritischen Zeitung Nowaja Gaseta, Dmitri Muratow, am Morgen im Nachrichtenkanal Telegram.
In Moskau und anderen Städten räumten Personen in Zivil oder Mitarbeiter der Stadtreinigung spontan errichtete Erinnerungsstätten für Nawalny. Sie packten Blumen in Mülltüten, sammelten Kerzen und Bilder ein. Medien in vielen Teilen Russlands berichteten am Samstag, dass trotzdem weiter frische Blumen niedergelegt, Kerzen angezündet und Bilder zur Erinnerung an Nawalny aufgestellt wurden. Nach Informationen von Menschenrechtlern gab es landesweit mehr als 100 Festnahmen.
Das Internetportal ovd.info berichtete am Samstagmorgen, dass allein in St. Petersburg mehr als 60 Menschen festgenommen worden seien. Festnahmen gab es demnach in zehn Städten, darunter auch in Moskau, Brjansk und Krasnodar. Die Bürgerrechtler gaben auch juristische Hinweise für das Niederlegen von Blumen und veröffentlichten die Nummer einer Telefon-Hotline für anwaltliche Hilfe.