Was Alexej Nawalny durchlebt hat, klingt wie ein schlechter Spionageschmöker, fast zu dramatisch, um wahr zu sein: Die vergiftete Unterhose, die Notlandung trotz Bombendrohung, der Schneewittchensarg. In diesem luftdichten Kasten ist der Oppositionelle im August 2020 nach Berlin geflogen worden, damals wusste noch niemand, womit er vergiftet worden war.
Als es Nawalny etwas besser ging, rief er persönlich bei einem seiner "Mörder" an, unter falschem Namen und zu Recherchezwecken. Als es ihm noch etwas besser ging, kehrte er nach Russland zurück und wurde wie erwartet festgenommen.
Russland:Nawalnys Netzwerk wird als extremistisch eingestuft
Auf einer Stufe mit al-Qaida und den Taliban: Ein Moskauer Gericht verbietet die Organisationen des Kremlkritikers. Mitarbeitern und Helfern drohen mehrjährige Haftstrafen. Selbst wer Geld spendet, könnte vor Gericht kommen.
Was ist das für ein Typ, der so etwas macht und mitmacht? Die drei Politikwissenschaftler Jan Matti Dollbaum, Morvan Lallouet und Ben Noble versuchen, es mit vereinten Kräften zu erklären und liefern eine meist nüchterne, vielschichtige Analyse von Nawalnys Wirken. Der Zeitpunkt dafür könnte besser kaum sein, der 45-Jährige ist ein Jahr nach dem Giftanschlag bekannt wie nie zuvor - und polarisiert dabei wie eh und je.
Bei dem Thema gibt es oft nur schwarz und weiß
Alexej Nawalnys Anhänger sehen in ihm einen Helden, der Präsident Wladimir Putin zum Duell von Gut gegen Böse herausgefordert hat. Seine Gegner halten ihn schlicht für einen Verräter. Der Anschlag auf sein Leben hat dieses Schwarz-Weiß-Denken noch verstärkt, dem wollen die drei Autoren entgegentreten und die Grautöne betrachten.
Sie haben Nawalny dafür nicht persönlich getroffen. Ihr Buch ist keine Biografie und verrät wenig über Nawalnys persönliche Gefühle oder darüber, woran er wirklich glaubt. Stattdessen erklärt es, warum diese Fragen im heutigen Russland zunächst nicht so wichtig erscheinen.
Nawalny selbst hat mal gesagt, er halte wenig von "ideologischem Palaver". Alles, was er tut, so erklären es die Autoren, tut er mit dem großen Ziel vor Augen, Wladimir Putins autokratisches System loszuwerden. Viele seiner Entscheidungen lassen sich durch diese Logik erklären. Weil Nawalny seine Strategie - und manchmal scheinbar auch seine Ideologie - immer wieder an dieses Ziel anpasst, macht ihn das zu einer recht komplizierten Figur.
"Die Menschen sind nicht zu Unrecht verwirrt", schreiben die Autoren und zählen all die Widersprüchlichkeiten auf, die Nawalny vereint. Er ist ein Liberaler, der aber auch nationalistische und sogar rassistische Bemerkungen gemacht hat. Ein Antikorruptionsaktivist, der selbst wegen Unterschlagung angeklagt wurde. Ein russischer Patriot, der die Krim-Annexion kritisiert hat. Nawalny fordert mehr Demokratie und führte seine eigene Bewegung doch recht autoritär.
Seine wahren Überzeugungen bleiben verborgen
Um die Sache zu vereinfachen, teilt das Buch Nawalnys Karriere in drei Teile, allerdings nicht chronologisch, sondern nach Tätigkeitsfeldern. Es beschreibt den Antikorruptionskämpfer, den Politiker und schließlich den Aktivisten Nawalny.
Seine kontroverseste Rolle ist sicher die des Politikers. Die Autoren ordnen ihn zwar klar als Liberalen ein, erklären aber auch Nawalnys strategische Gründe für seinen Ausflug in den Nationalismus. Seine fremdenfeindlichen Äußerungen sind Jahre her, Nawalny hat sich nie richtig davon distanziert, sie aber auch nicht wiederholt.
Wer nun gehofft hatte, im Buch eine Antwort auf die Frage zu finden, wie Nawalny wirklich über Migranten denkt, wird enttäuscht. Seine wahren Überzeugungen kennen die Autoren nicht und vermeiden Spekulationen. Das ist wichtig, vor allem vor dem Hintergrund heutiger Politik in Russland. Denn einerseits ist dem Kreml daran gelegen, Nawalny als charakterschwachen Menschen hinzustellen und mögliche Fehltritte zu betonen oder zu erfinden. Andererseits unterstellen Nawalnys Unterstützer denen, die kritisch nachfragen, schnell eine politische Agenda.
Aus Sicht vieler russischer Oppositioneller ist jetzt nicht die Zeit, über Nawalnys Schwächen zu sprechen, gegenüber denen sie keinesfalls blind sind. Wenn Nawalny frei ist, wenn er bei demokratischen Wahlen antreten darf, wenn all das geschafft ist, dann kann man über seine Methoden und Ansichten streiten, so sehen es viele. "Egal für welche Aspekte von Nawalnys politischer Idee und Karriere wir Sympathie oder Antipathie hegen", betonen die Autoren, "wir befinden uns nicht auf dem Schlachtfeld russischer Politik".
Man lernt in ihrem Buch viel über dieses Schlachtfeld, etwa über die Streitereien innerhalb der liberalen Opposition und über den weiterhin großen Rückhalt Putins innerhalb der Bevölkerung. Was also bringt immer mehr Menschen dazu, Nawalny trotz großer Risiken zu unterstützen? Es ist unklar, wie viele Aktivisten die Autoren dazu befragt haben. Was sich herauskristallisiert, ist die Bewunderung für einen Mann, der glaubt, das scheinbar Unerreichbare erreichen zu können. Selbst aus dem Gefängnis heraus.