Im Europawahlkampf ließ Bundeskanzler Olaf Scholz sein Konterfei mit dem Slogan „Frieden sichern – SPD wählen“ plakatieren. Das mutete schon damals ein wenig bizarr an, betonte Scholz doch fortwährend, dass Deutschland nach den USA der wichtigste Unterstützer der Ukraine ist – auch in militärischer Hinsicht. Dann erlaubte Berlin im Einklang mit Washington auch noch, dass Kiew vom Westen gelieferte Waffen etwa zur Verteidigung der Großstadt Charkiw auch gegen militärische Ziele auf russischem Boden einsetzen darf.
Vom Nato-Gipfel in Washington kam nun am Mittwochabend die Nachricht, dass Scholz und US-Präsident Joe Biden die Stationierung weitreichender US-Waffensysteme in Deutschland vereinbart haben – zum ersten Mal, seit 1991 auf Grundlage des INF-Vertrages zwischen den USA und der Sowjetunion die letzten Mittelstreckensysteme der USA abgerüstet und verschrottet worden waren.
Von 2026 an sollen die Waffensysteme in Deutschland bereitgestellt werden
Die Fraktionen der Ampelkoalition sind dem Vernehmen nach ebenso wie die Union über die seit einigen Monaten laufenden Verhandlungen zwischen Washington und Berlin im Bilde. Der Vergleich mit dem Nato-Doppelbeschluss von 1979, dem der Bundestag im November 1983 zustimmte, ist in vielerlei Hinsicht schief.
Kritiker wird das aber kaum abhalten, ihn zu ziehen, etwa Sahra Wagenknecht, die regelmäßig Argumente der russischen Propaganda aufgreift. Sie sprach am Morgen schon von „neuen Angriffswaffen“, wie der Spiegel berichtet. Bemerkenswert ist, dass Scholz das Vorhaben trotzdem nicht erst nach den Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen im September publik macht.
In einer gemeinsamen Erklärung beider Regierungen heißt es, beginnend im Jahr 2026 und als Teil einer Planung zur künftigen dauerhaften Stationierung würden die USA zeitweilig weitreichende Waffensysteme in Deutschland bereitstellen. „Diese werden über deutlich größere Reichweite als die derzeitigen landgestützten Systeme in Europa verfügen.“ Die geplante Stationierung verdeutliche die „Verpflichtung der Vereinigten Staaten von Amerika zur Nato sowie ihren Beitrag zur integrierten europäischen Abschreckung“, erklären Washington und Berlin. Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius, der die Entscheidung der US-Regierung begrüßt, betont, dass somit eine „ernst zu nehmende Fähigkeitslücke“ in Europa geschlossen werde.
Trump könnte den Plan wieder kassieren
Adressat ist der russische Präsident Wladimir Putin, der seit mehr als 20 Jahren massiv die Entwicklung neuer nuklearfähiger Mittelstreckenwaffen und die Aufrüstung der russischen Streitkräfte betrieben hat. Dem hatte die Nato bislang nur bedingt etwas entgegenzusetzen. Die geplante Stationierung soll gleichermaßen der Verteidigung von Nato-Territorium dienen wie auch als Abschreckungssignal.
Die Bundesregierung hat in Reaktion auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine selbst in ihrer Nationalen Sicherheitsstrategie festgeschrieben, die Entwicklung und Einführung von „abstandsfähigen Präzisionswaffen“ zu befördern. Auf der Münchner Sicherheitskonferenz bekräftigte Scholz dies nochmals. „Darüber sprechen wir mit Frankreich und Großbritannien“, fügte er hinzu. Das Vorhaben füge sich ein in Bemühungen des französischen Präsidenten Emmanuel Macron und der Bundesregierung, die europäische Verteidigungsindustrie zu stärken.
Gemeinsam mit Norwegen lässt Berlin bereits eine Hyperschallrakete für die Marine entwickeln. Gemeinsame Projekte mit Paris und London sollen folgen. Zudem ist geplant, dass mit den 35 F-35-Kampfjets aus den USA auch 75 Marschflugkörper vom Typ JASSM beschafft werden, die eine Reichweite von etwa 1000 Kilometer aufweisen. Die einzige einsatzbereite Waffe der Bundeswehr in dieser Kategorie sind derzeit die Taurus-Marschflugkörper, die mehr als 500 Kilometer weit reichen und im Tiefstflug feindliche Luftverteidigung ausmanövrieren können.
Die Lücke in den Fähigkeiten der Nato und der Bundeswehr könnten nun vorerst die Amerikaner schließen, auf Wunsch der Deutschen, wie es in Washington heißt. Allerdings ist eine wichtige Einschränkung zu machen: Ob die Ankündigung noch gilt, sollte Donald Trump im November die Präsidentenwahl gewinnen, ist mindestens fraglich. Planungen zu annullieren, zumal am Anfang einer Amtszeit, dürfte ihn vor keine große Herausforderung stellen.
In Deutschland stationiert werden sollen den Plänen nach „konventionelle Einheiten“, also keine zusätzlichen Atomsprengköpfe – schon darin liegt ein entscheidender Unterschied zum Nato-Doppelbeschluss, der die Stationierung nuklear bestückter Pershing-II-Raketen vorsah. Die Waffensysteme sind aber geeignet, um etwa Befehlsstände und Bunkeranlagen anzugreifen.
„Typhon“-Batterien lassen sich schnell verlegen
Die Rede ist von weitreichenden Flugabwehrraketen vom Typ SM-6, einer landgestützten Version des Marschflugkörpers Tomahawk und derzeit noch in Entwicklung befindlichen Hyperschallwaffen. Die beiden erstgenannten hat die US-Armee in einem System namens Typhon zusammengeführt.
Das System kann auf dem Landweg oder durch die Luft schnell verlegt werden. Die USA haben im Zuge einer Übung eine komplette Typhon-Batterie über fast 13 000 Kilometer mit C-17-Militärtransportern auf die Philippinen geflogen. Die SM6-Flugabwehrrakete kann Ziele in bis zu 250 Kilometer Entfernung bekämpfen und wurde primär entwickelt, um feindliche ballistische Raketen abzufangen – solche stellen eine zentrale Bedrohung des Nato-Gebiets durch Russland dar. Die Reichweite des Marschflugkörpers Tomahawk beträgt nach US-Angaben bis zu 2500 Kilometer, er kann damit Ziele tief im europäischen Teil Russlands bekämpfen.
Bei der Hyperschallwaffe handelt es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um die Long-Range Hypersonic Weapon (LRHW) der US-Armee, auch Dark Eagle genannt, die sich in der finalen Phase der Erprobung befindet. Dabei handelt es sich um eine ballistische Mittelstreckenrakete mit einer Reichweite von 3000 Kilometern, die noch dieses Jahr regulär in Dienst gestellt werden soll.
Auch bei diesem System ist die Starteinrichtung in einem Auflieger montiert, der mit einer Zugmaschine verlegt werden kann. Die Rakete trägt einen konventionellen, aber hochpräzisen Sprengkopf, der von einem Hyperschallgleiter von außerhalb der Atmosphäre ins Ziel gebracht wird. Diese Gleiter fliegen mindestens mit fünffacher Schallgeschwindigkeit und sind steuerbar. Damit sind sie extrem schwer abzufangen.
Putin droht immer wieder mit dem Einsatz seiner Atomwaffen
Beide Waffensysteme wären unter den Regelungen des Vertrags zum Verbot nuklearer Mittelstreckensystemen verboten gewesen, den die USA unter Präsident Donald Trump als Reaktion auf Vertragsverletzungen durch Russland gekündigt hatten. Dieser sogenannte INF-Vertrag untersagte den USA und der Sowjetunion Besitz, Produktion und Lagerung jeglicher landgestützter Raketen und Marschflugkörper mit Reichweiten von 500 bis 5500 Kilometern.
Die Nato-Staaten unterstützten 2019 einhellig die Einschätzung der USA, Russland habe entgegen seinen Verpflichtungen einen bodengestützten atomwaffenfähigen Marschflugkörper mit mehr als 2000 Kilometern Reichweite entwickelt. Mit diesen Waffen könnte Russland jeden Ort in Mitteleuropa erreichen – binnen weniger Minuten.
Zudem hat Moskau atomwaffenfähige Iskander-Kurzstreckenraketen in der Exklave Kaliningrad aufgestellt, die zwischen Polen und Litauen liegt. Putin hat darüber hinaus eine Reihe von Hyperschallwaffen eingeführt und erhöht seit Jahren die Bedeutung der Atomwaffen in Russlands Militärdoktrin. Er hat seit dem Angriffskrieg gegen die Ukraine wiederholt mit deren Einsatz gedroht und die Verlegung taktischer Sprengköpfe nach Belarus angeordnet.
Mittelstreckenraketen erhöhen das Risiko von Fehleinschätzungen
Generell gelten Mittelstreckenraketen als besonders destabilisierend, weil ihre kurzen Flugzeiten eine Reaktion binnen weniger Minuten erforderlich machen: Wenn die Seite, die sich als Ziel eines nuklearen Angriffs sieht, verhindern will, dass ihr Atomarsenal Ziel eines gegnerischen Erstschlags wird, muss sie ihre Raketen starten, bevor die der anderen Seite einschlagen.
Das birgt das Risiko von Fehleinschätzungen, wie sich im Kalten Krieg gezeigt hat. Deswegen hatten 1987 US-Präsident Ronald Reagan und der sowjetische Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow den INF-Vertrag geschlossen, um die Gefahr eines atomaren Schlagabtauschs in Europa zu reduzieren. Die Nato hält weiter daran fest, keine nuklearen Mittelstreckenwaffen in Europa zu stationieren.
Die Allianz hatte bisher auf das Ende des INF-Vertrags und Russlands Einführung der neuen Mittelstreckenwaffe 9M729 auch nicht mit der Stationierung landgestützter Systeme reagiert, sondern die Präsenz von Schiffen mit entsprechenden Waffen in europäischen Gewässern verstärkt. Schiffs- und flugzeuggestützte Waffen waren vom INF-Vertrag nicht verboten. Bei dem Typhon-System handelt es sich um eine Weiterentwicklung der auf Zerstörern und Raketenkreuzern der US-Marine eingesetzten Anlagen. Nun erachtet es die Allianz für nötig, der Abschreckung noch mehr Nachdruck zu verleihen.