Süddeutsche Zeitung

Nato und Russland:Szenen einer Ehe

Wegen der Ukraine-Krise liegen Russland und die Nato derzeit auf der Couch der historischen Analytiker. Doch stimmen deren Diagnosen auch?

Von Stefan Kornelius

Die Geschichte der Beziehung zwischen Russland und der Nato ist keine Geheimsache. Schlüsseltermine und Ereignisse der vergangenen 25 Jahre sind weitgehend bekannt. Historiker mögen die eine oder andere Nuance beisteuern, wie etwa die Feinheiten in den Verhandlungen um die Nato-Mitgliedschaft des vereinten Deutschlands. Aber die groben Linien der Diplomatiegeschichte werden mutmaßlich auch in vielen Jahren nicht umgeschrieben werden müssen.

Streit herrscht jedoch über die Interpretation der Ereignisse. Die verbissene Auseinandersetzung über die Juli-Krise vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs zeigt, dass manchmal selbst hundert Jahre nicht ausreichen, um Geschichte von ihrem ideologischen Ballast zu befreien. Die Beziehungsanalyse der Antagonisten aus dem Kalten Krieg endet also fast zwangsläufig im politischen Streit.

Das Argument der Nato-Kritiker liest sich in etwa so: Russlands aggressive Nachbarschaftspolitik ist Folge einer jahrzehntelangen, systematischen Einkreisung durch die Nato, einer vom Westen herbeigeführten Demütigung. Russlands Bemühungen um Kooperation seien ignoriert und verhöhnt worden. Russland befriedige nun sein Schutzbedürfnis, indem es einen Cordon sanitaire, einen Sicherheitsring, um sich lege. Auslöser für diese aggressive Nachbarschaftspolitik sei der Sturz des ukrainischen Präsidenten Janukowitsch gewesen, der von "Faschisten" vertrieben wurde, die wiederum vom Westen aufgewiegelt und finanziert worden seien.

Dieses Argument lässt gleich mehrere Entwicklungsstufen aus und spricht der Ukraine das Selbstbestimmungsrecht ab. Jenseits der Haltbarkeit solcher Bismarck-Phantasien zu Beginn des 21. Jahrhunderts gibt es aber auch ein paar nüchterne historische Argumente, die diese Kritik widerlegen. Dazu muss man zurückgehen in das Mauerfalljahr 1989, das Europa in ein gewaltiges sicherheitspolitisches Vakuum stürzte. Das war gefährlich. Wie prekär die Lage für Deutschland war, zeigen die Protokolle und Gesprächsnotizen der Zwei-plus-Vier-Verhandlungen und der direkten diplomatischen Bemühungen der Hauptakteure Helmut Kohl, Michail Gorbatschow, George H. W. Bush und ihrer Außenminister.

Kohl, Genscher und das natofreie Ostdeutschland

Mary Elise Sarotte, eine Harvard-Historikerin, hat zum 25. Jahrestag neue, bisher geheime Quellen ausgewertet und kommt, wie schon in ihrem Standardwerk "1989", zum Ergebnis, dass es keine festen Zusagen über eine Neutralität Mitteleuropas oder gar Deutschlands gegeben habe. Nirgendwo wurde kodifiziert, dass die Nato keine neuen Mitglieder würde aufnehmen dürfen.

Moskau willigte am Ende in die Vereinigung Deutschlands ein, ohne die sicherheitspolitische Verankerung des Landes in der Nato infrage zu stellen. Über die übrigen Länder des damals noch existierenden Warschauer Paktes machte sich zu diesem Zeitpunkt keiner Gedanken. Deswegen kann es auch keine Zusage über ihre Neutralität gegeben haben.

Wahr ist allerdings auch, dass in einer frühen Verhandlungsphase nach dem 9. Februar 1990 sowohl von US-Außenminister James Baker als auch von den Deutschen Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher mündliche Zusicherungen in Moskau abgegeben wurden, alternativ den Osten Deutschlands oder gar ganz Deutschland sicherheitspolitisch gesondert zu behandeln, sprich: aus der Nato fernzuhalten.

Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow mag seine Zustimmung zur Vereinigung unter dem Eindruck der Worte seiner Besucher gegeben haben. Ihm musste aber auch klar gewesen sein, dass Moskaus Einfluss schon damals nicht mehr groß genug war, um die Ereignisse steuern zu können.

Die Überlegungen einer abgestuften Sicherheitszone zerschlugen sich binnen kurzer Zeit wieder und tauchten in den Vereinigungsdokumenten nicht mehr auf. Hingegen unterschrieb Russland im Herbst 1990 die Schlussfolgerung der Pariser Konferenz, in der die KSZE-Staaten jedem Land das Recht zubilligten, seine Bündniszugehörigkeit frei wählen zu können. Außerdem verzichteten die Staaten auf die Anwendung von Gewalt untereinander und versicherten sich, dass ihre Territorien unverletzlich seien - Garantien, die bemerkenswerterweise Russlands Sicherheitsbedürfnis befriedigen sollten.

Es waren die neu erwachten Staaten Mitteleuropas - Polen, Ungarn, Tschechien, die Slowakei, Rumänien, Bulgarien -, die schnellstmöglich von diesem Recht auf Selbstbestimmung Gebrauch machen wollten und in die Nato drängten. Der damalige deutsche Verteidigungsminister Volker Rühe wurde ihr Advokat in der Sache - zunächst sehr zum Missfallen seines Bundeskanzlers und der USA.

Washington konterte die Idee mit dem Programm "Partnerschaft für den Frieden", das eine Art Mitgliedschaft zweiter Klasse schaffen sollte. Freilich war der Druck der Freiheitshelden Václav Havel oder Lech Wałęsa größer. Erst 1996 machte sich die Nato die Erweiterung zum Programm, 1999 traten die ersten drei Kandidaten dem Bündnis bei.

Clinton schlug langfristigen Nato-Beitritt Russlands vor

In der Zwischenzeit war die Beziehung zu Russland zentrales Thema aller Überlegungen bei der Nato. Der damalige Bundeswehr-Generalinspekteur Klaus Naumann, später Vorsitzender des Nato-Militärausschusses, schreibt in einer detaillierten Rückschau auf die Zeit, "wir nahmen uns vor, alles zu vermeiden, was Russland als Verletzung oder Demütigung verstehen könnte".

Praktisch mündete diese Rücksichtnahme in einer Selbstverpflichtung: Deutschland stationierte keine Nato-Truppen und keine Atomwaffen auf ostdeutschem Gebiet. Die Bundeswehr wurde deutlich verkleinert, Russlands heimkehrende Soldaten wurden großzügig unterstützt, ihre Erinnerungsstätten gepflegt.

1990 formulierte auch die Nato ihre erste Handreichung nach Moskau, nachzulesen im Gipfeldokument von London. Die strategische Debatte zwischen den einstigen Blockgegnern wurde über die Jahre weitergeführt. US-Präsident Bill Clinton eröffnete seinem russischen Kollegen Boris Jelzin sogar eine Beitrittsperspektive.

Jelzin schlug aus und konterte mit der Idee einer neutralen Zone in Mitteleuropa - beaufsichtigt von den beiden Großmächten USA und Russland. Naumann erinnert sich, dass "wir sahen, wie sehr das russische Militär noch immer im konfrontativen Denken zweier Blöcke verwurzelt war".

Noch bevor die Nato Beitrittsgespräche mit mitteleuropäischen Staaten eröffnete, unterzeichnete sie1997 die Nato-Russland-Akte. Mit dem Dokument wurde der Nato-Russland-Rat etabliert. Ein unerhörter Vorgang: Russland bekam Sitz und Zutritt im Nato-Hauptquartier, richtete dort einen militärischen und diplomatischen Stab ein, wurde zu allen relevanten sicherheitspolitischen Entscheidungen konsultiert.

Berlin verhinderte 2008 Annäherung der Ukraine an die Nato

Die Nato sicherte wie schon Deutschland 1990 zu, weder Atomwaffen noch Truppen von mehr als einer Division (damals etwa 10 000 Mann) pro Beitrittsland, noch Kommandozentralen in den beigetretenen Ländern einzurichten. Als Zeichen ihrer defensiven Haltung verzichtete sie auf eine Notfall-Planung für ihre Ostgrenze.

Jahre später wiederholte sich der Reflex: 2008 verhinderte Deutschland die Annäherung der Ukraine und Georgiens an die Nato - aus Rücksicht auf russische Sicherheitsinteressen. Und 2012 legte die Nato ihre Pläne für eine gemeinsam mit Russland betriebene Raketenabwehr auf Eis, weil Russland darin eine Beeinträchtigung seiner Abschreckungsfähigkeit sah.

Die Wende in den Beziehungen brachte der Kosovokrieg 1999. Russland befürchtete nach der Amputation des Sowjetreichs weitere Gebietsverluste in abtrünnigen Regionen. Und nun musste es mit Schrecken zusehen, wie die Nato auf dem Balkan einen neuen Staat aus der Taufe hob - selbst wenn die Gräueltaten der Serben eine neue, völkerrechtliche Legitimationsgrundlage lieferten.

Dieser Blick auf ein übermächtiges Nato-Bündnis verstärkte sich in der ersten Präsidentschaftsphase Wladimir Putins. Russland ergriff zwar noch einmal von sich aus die Initiative und schlug eine neue europäische Sicherheitsarchitektur vor, in der Russland zwar ein politisches Veto in der Nato zugestanden würde, es aber keine militärische Gegenleistung bringen wollte. Der Vorstoß von Putins Premier Medwedjew war aber dilettantisch eingefädelt und leicht zu durchschauen. Russland ging es nicht um eine stabile Sicherheitsarchitektur in Europa. Es ging um die Delegitimierung der Nato und die Abkopplung der europäischen Bündnispartner von den USA.

Diese USA erlebten nach dem 11. September 2001 ganz andere Reizungen ihrer sicherheitspolitischen Nervenstränge. Russland verschwand vom amerikanischen Radarschirm, auch wenn George W. Bush meinte, er habe in Putins Augen geschaut und die Seele des Mannes entdeckt. Von nun an bekam Russland seine geopolitische Deklassierung über die Tagesnachrichten serviert.

Der Nato-Russland-Rat verlor an Bedeutung, wurde nach der Südossetien-Invasion Russlands gar auf Eis gelegt. Die wenigen Anti-Terror-Kooperationen wurden überschattet vom Irak, von Afghanistan und der furiosen Achterbahnfahrt der USA in der Weltpolitik. Russlands Antwort: Putin gab sie 2007 auf der Münchner Sicherheitskonferenz, 2008 in Georgien und nun in der Ukraine.

Nach 9/11 verlor die Nato Russland aus den Augen

Die Beziehungsgeschichte folgt also einer inneren Logik: In den Neunzigerjahren des letzten Jahrhunderts, als die Nato alle Anstrengungen unternahm, war Russland zu sehr mit sich selbst beschäftigt, unfähig zu einer sicherheitspolitischen Modernisierung und zu einer Kooperation mit der Nato.

In den frühen 2000er-Jahren verlor die Nato Russland aus den Augen, weil ihr mächtigstes Mitglied angegriffen wurde und Russland scheinbar an Bedeutung verlor. Nun will Wladimir Putin die Beziehungen für ein wiedererstarktes Russland neu definieren - mit Gewalt. Die Mär vom aggressiven nordatlantischen Bündnis hilft ihm dabei.

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SZ vom 05.09.2014/odg
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