Nato:Vorbereitungen auf einen Albtraum

Lesezeit: 3 Min.

Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg und US-Verteidigungsminister Lloyd Austin in Brüssel. (Foto: SIMON WOHLFAHRT/AFP)

Vor der US-Wahl möchte die Nato die Ukraine-Hilfe logistisch etwas vom Weißen Haus abkoppeln. Deshalb koordiniert sie Waffenlieferungen künftig selbst. Selbst Viktor Orbán gibt seinen Widerstand dagegen auf.

Von Hubert Wetzel, Brüssel

Viktor Orbán ist wie einer jener Erwachsenen, die einem Kind eine Tüte Gummibären hinhalten und fragen: „Wie heißt das Zauberwort?“ Das Kind muss dann brav „bitte“ sagen. Mitte der Woche war es freilich der ganz und gar nicht kindische Jens Stoltenberg, 65 Jahre alt und Generalsekretär der Nato, den Orbán in Budapest antanzen und „bitte“ sagen ließ. Aber der Besuch lohnte sich – nach wochenlanger Blockade bekam Stoltenberg von dem Ungarn die Erlaubnis, die Ukraine-Hilfe der Nato auf eine neue Grundlage zu stellen.

Wie oft in internationalen Organisationen wird in solchen Fällen zuerst eine neue Abkürzung erfunden. Bei der Nato lautet diese NSATU: Nato Security Assistance and Training for Ukraine. Gemeint ist damit eine neue, mit mehreren Hundert Soldaten besetzte Abteilung in einem US-Hauptquartier in Wiesbaden, die sich künftig darum kümmern soll, die Waffenlieferungen der westlichen Länder an die Ukraine und die Ausbildung ukrainischer Soldaten zu koordinieren und zu organisieren. Einen entsprechenden Beschluss fassten die Verteidigungsminister und -ministerinnen der Allianz am Freitag bei ihrem Treffen in Brüssel, nachdem zuvor Stoltenberg Orbáns Zustimmung erreicht hatte.

Am Horizont dräut die Rückkehr des Nato-Verächters Donald Trump

Ungarn will mit dem Krieg in der Ukraine nichts zu tun haben und muss sich an der NSATU-Mission nicht beteiligen – blockiert dafür aber die Entscheidung der anderen 31 Mitgliedsländer auch nicht mehr per Veto. Endgültig abgesegnet werden soll die Änderung beim Nato-Gipfeltreffen in vier Wochen in Washington, bei dem das Bündnis auch seinen 75. Geburtstag feiern wird.

Bisher läuft die Koordinierung der Ukraine-Unterstützung relativ effektiv, aber eher informell über die sogenannte Ramstein-Gruppe, ein Zusammenschluss westlicher Länder, die vom US-Verteidigungsministerium geführt wird. Politisch wird der Einfluss der Amerikaner weiterhin groß sein – die USA sind und bleiben die Führungsnation in der Allianz. Durch die Übertragung eines Teils der organisatorischen Aufgaben der Ramstein-Gruppe an die Nato soll die Hilfe für Kiew aber wenigstens logistisch ein wenig von den politischen Verhältnissen in Washington abgekoppelt werden. Die europäischen Nato-Länder hoffen, auf diese Weise einen Damm gegen das Albtraum-Szenario bauen zu können, das am Horizont dräut: eine Rückkehr des Europa-Beschimpfers, Nato-Verächters und Ukraine-Hassers Donald Trump ins Weiße Haus.

Darüber hinaus wird die Nato der Ukraine beim Jubiläumsgipfel in Washington wenig Handfestes anbieten. Einen Zeitplan oder gar ein konkretes Datum für die Aufnahme in die Allianz? Wird es Diplomaten zufolge nicht geben. Eine langfristige Verpflichtung, jedes Jahr einen zweistelligen Milliardenbetrag – Stoltenberg denkt an 40 Milliarden Euro – zur Unterstützung der Ukraine bereitzustellen? Schwierig, denn: Woher soll das Geld kommen?

Die Niederlande wollen ein „Patriot“-System zusammenpuzzeln

Selbst eine auf den ersten Blick so simple Sache wie die Belieferung der Ukraine mit einer ausreichend großen Anzahl an Luftverteidigungssystemen schaffen die Nato-Länder allenfalls mit großer Mühe. Sieben Patriot-Staffeln bräuchte die Ukraine nach Angaben von Präsident Wolodimir Selenskij, um ihre wichtigsten Großstädte und ihre Infrastruktur gegen den russischen Beschuss zu verteidigen. Doch die Nato-Mitglieder, die zusammen über Dutzende Patriot-Staffeln oder ähnliche Verteidigungssysteme verfügen, bekommen diese Zahl nicht zusammen.

So argumentiert zum Beispiel Frankreich, es müsse mit seiner Flugabwehr die Olympischen Spiele in Paris in diesem Sommer schützen. Da bei der Nato keine Fälle bekannt sind, bei denen internationale Sportereignisse das Ziel von Luftangriffen mit Gleitbomben oder Raketen geworden wären, überzeugt diese Begründung nicht alle in Brüssel. Auch dass das Nato-Mitglied Griechenland aus Furcht vor einem Krieg mit dem Nato-Mitglied Türkei keine Patriots an Kiew abgibt, stößt auf Kritik.

Die Niederlande baten am Donnerstagmorgen in Brüssel sogar zu einem sogenannten „Puzzle-Frühstück“, um verschiedene Nato-Länder dazu zu bringen, wenigstens einzelne Komponenten einer Patriot-Staffel beizusteuern. So soll ein komplettes System zusammengestückelt werden. In einigen Nato-Regierungen löst die Bräsigkeit anderer Partner bei der Unterstützung der Ukraine mittlerweile offenen Zorn aus. Statt zu liefern, was die Ukrainer dringend zum Überleben benötigten – Artilleriegranaten und Luftverteidigungssysteme –, würden zur Ablenkung Debatten über die Entsendung französischer Militärausbilder in das Land geführt, klagen Nato-Diplomaten.

Macron hat dem Bündnis ein zweites Schreckensszenario beschert

Überhaupt Frankreich. Als wäre die Bedrohung durch Trump nicht dramatisch genug, hat der französische Präsident Emmanuel Macron der Allianz ein zweites Schreckensszenario beschert. Was, wenn bei der von ihm ausgerufenen Neuwahl des Parlaments die rechtsextreme Partei RN von Marine Le Pen gewinnt? Was, wenn Le Pen, die die Nato kaum besser findet als Trump, gar 2027 Frankreichs Präsidentin wird?

Schon ein Wegbrechen des amerikanischen Partners wäre für die Nato eigentlich nicht zu verkraften. Fiele dann diesseits des Atlantiks auch noch Frankreich aus, wäre es praktisch unmöglich, die europäische Verteidigung zu organisieren.

Was und an wen Macron also bei seiner einsamen Entscheidung für eine Neuwahl auch gedacht haben mag – die Folgen für die Nato-Verbündeten hatte er offenbar nicht im Blick. Die Washingtoner Feierlaune dürfte darunter leiden.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ PlusUkraine-Konferenz in der Schweiz
:Im besten Fall ein Schritt in Richtung Frieden

Ohne Russland und mit einer sehr überschaubaren Agenda: Was können die Teilnehmer des Ukraine-Gipfels dieses Wochenende am Vierwaldstättersee überhaupt erreichen?

Von Nicolas Freund

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: