Nato-Generalsekretär:"Es ist gut, wenn die EU mehr in Sachen Verteidigung unternimmt"

Jens Stoltenberg Generalsekretaer der NATO North Atlantic Treaty Organization aufgenommen bei ei

Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg

(Foto: Florian Gaertner/imago/photothek)

Für Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg ist das Bündnis alles andere als hirntot. Er erklärt, warum er sich mehr Engagement von Deutschland wünscht - und wie die Nato im Türkei-Syrien-Konflikt agieren will.

Interview von Daniel Brössler und Matthias Kolb, Berlin

Zum 30. Jahrestag des Falls der Berliner Mauer versammelt sich Europas Polit-Prominenz in der deutschen Hauptstadt. Auch Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg verbringt mehrere Tage in Berlin - um Bundeskanzlerin Angela Merkel zu treffen und eine Grundsatzrede über die Nato als "Grundpfeiler der transatlantischen Sicherheit" zu halten. Sein Besuch wird jedoch überschattet von der Aussage des französischen Präsidenten Emmanuel Macron, der die Nato im Interview mit dem Economist als "hirntot" bezeichnet hat. Im Gespräch mit der SZ widerspricht der frühere norwegische Ministerpräsident und blickt voraus auf das in wenigen Wochen stattfindende Treffen der Staats- und Regierungschefs in London - zu diesem kleinen Nato-Gipfel wird auch Donald Trump anreisen.

SZ: Herr Generalsekretär, nach den Äußerungen von Emmanuel Macron müssen wir fragen: Ist die Nato hirntot?

Jens Stoltenberg: Die Nato ist stark und Nordamerika und Europa machen heute gemeinsam mehr als früher. Wir haben unsere kollektive Verteidigung verstärkt und erstmals seit vielen Jahren unsere Kommandostruktur verbessert. Die USA erhöhen ihre militärische Präsenz in Europa, mit mehr Soldaten, mehr Investitionen und mehr Übungen. Und auch die europäischen Partner investieren mehr in ihre Sicherheit, seit fünf Jahren in Folge.

Aber hat Präsident Macron nicht auf eine andere Art recht? Bei der Nato geht es nicht nur um Panzer, sondern auch um Vertrauen. Das Vertrauen schwindet, wegen des US-amerikanischen Präsidenten.

Es gibt immer Differenzen in der Nato, denn wir sind eine Allianz aus 29 Demokratien. Meinungsverschiedenheiten gibt es in Handelsfragen oder beim Klimawandel, aber Streit gab es früher auch, etwa in der Suezkrise 1956 oder im Irakkrieg 2003. Die Stärke der Nato besteht darin, dass wir diese Probleme überwinden und uns gegenseitig schützen und verteidigen. Die Nato ist die einzige Plattform, wo sich Nordamerikaner und Europäer in Fragen der Verteidigung beraten - und zwar jeden Tag. Fast immer kommen wir zu einer Einigung, manchmal aber nicht. Dann ist es wichtig, die strittigen Themen weiter untereinander zu bereden.

Präsident Macron fehlt aber genau das. Er klagt, dass Nordamerikaner und Europäer nicht über Strategie und die wichtigen Themen reden und sich koordinieren.

Wir diskutieren regelmäßig über unseren Umgang mit Russland, wo wir auf Abschreckung und Verteidigung, aber auch auf Dialog setzen. Diese Position ist stark, weil wir sie gemeinsam beschlossen haben, und im Nato-Russland-Rat diskutieren wir mit Moskau. Wir haben monatelang über den Bruch des INF-Mittelstreckenvertrags durch Russland und die Folgen beraten, wir diskutieren über den Kampf gegen den Terrorismus und die Abwehr von Bedrohungen aus dem Cyberspace. Über diese strategischen Fragen reden wir jeden Tag.

Aber es ist doch ein Problem, wenn der Präsident eines großen Nato-Landes auf die Frage nach der Gültigkeit des Artikel-5-Bündnisfalls antwortet: "Ich weiß nicht." Das muss Ihnen Sorgen machen.

Alle 29 Nato-Partner bekennen sich eisern zum Bündnisfall-Artikel des Gründungsvertrages, wonach ein Angriff auf ein Mitgliedsland einen Angriff auf alle Verbündeten darstellt. Dieses Bekenntnis steht nicht nur auf Papier, wir sehen es in der Realität. Der letzte US-Kampfpanzer hat Europa 2013 über Bremerhaven verlassen. Nun sind die Amerikaner zurück mit einer ganzen Armeebrigade, das sind sehr viele Panzer. Für mich gibt es keinen stärkeren Ausdruck der Bündnissolidarität. Die Nato ist in Polen und dem Baltikum präsent. Und ich will betonen, worüber wir uns auch einig sind: Wir tun das nicht, um Kriege zu führen, sondern um Konflikte zu vermeiden. Die Nato sichert den Frieden.

In Paris und Brüssel wird viel über Europas "strategische Autonomie" geredet.

Es ist gut, wenn die EU mehr in Sachen Verteidigung unternimmt. 90 Prozent der EU-Bürger leben in einem Nato-Land. Ich wünsche mir so viel europäische Einigkeit wie möglich, aber sie kann transatlantische Einigkeit nicht ersetzen. Die Europäische Union kann Europa nicht verteidigen, schon gar nicht, wenn mit Großbritannien das EU-Land mit dem größten Verteidigungsbudget austritt. Nach dem Brexit werden 80 Prozent der Nato-Militärausgaben von Nicht-EU-Mitgliedern gemacht werden. Es geht hier aber nicht nur um militärische Fähigkeiten, sondern auch um Geografie. Norwegen im Norden ist ebenso wichtig für die Sicherheit im Nordatlantik wie die Türkei im Süden, um auf die dortigen Herausforderungen zu reagieren. Und die USA, Kanada und bald Großbritannien sind entscheidend für Europas Sicherheit. Und gerade jetzt gilt es die Lehren aus der Geschichte zu ziehen. Die Wiedervereinigung Deutschlands und Europas wäre ohne die Sicherheitsgarantien der USA und Nato unmöglich gewesen.

Dann ist die strategische Autonomie ein Irrweg?

Jeder interpretiert den Begriff anders. Ich unterstütze es, wenn EU-Mitglieder kooperieren, etwa über den Verteidigungsfonds EDF oder die strukturierte Zusammenarbeit Pesco. Es darf aber nicht sein, dass etwas dupliziert wird oder neue Hindernisse aufgebaut werden, um Nato-Partner auszuschließen, die nicht der EU angehören.

"Die Bedrohungslage ist sehr komplex und schwierig geworden"

Berlin hält die Intervention der Türkei in Syrien für völkerrechtswidrig. Schadet diese Aktion eines Nato-Mitglieds nicht der Glaubwürdigkeit der Allianz?

Dies ist ein weiteres Beispiel dafür, dass sich Bündnispartner eben manchmal uneinig sind. Ich bin schnell nach Beginn der Aktion nach Istanbul geflogen und habe dort Präsident Recep Tayyip Erdoğan meine schweren Bedenken mitgeteilt. Durch die Spannungen besteht die Gefahr, dass sich die humanitäre Lage verschlechtert, mehr Menschen leiden und die Fortschritte im Kampf gegen den IS gefährdet werden. Die Lage bleibt fragil. Innerhalb der Nato diskutieren wir seit Jahren über die Lage in Syrien. Wir sind uns einig, dass das Bündnis in der Region bleiben soll, also mit Luftabwehrbatterien in der Türkei und in der Ägäis, wo wir helfen, das Flüchtlingsabkommen zwischen der EU und der Türkei durchzusetzen. Alle wissen, dass es für den Syrienkonflikt keine einfache Lösung geben wird und dass diese auf politischem Wege, mithilfe der Vereinten Nationen, gefunden werden muss.

Stimmen Sie Annegret Kramp-Karrenbauer zu, dass Deutschland zu passiv war in Verteidigungsfragen? Worauf hoffen Sie?

Deutschland spielt eine führende Rolle in der Nato. Es ist nicht nur die größte Volkswirtschaft Europas, sondern auch das Herz des Bündnisses. Ich begrüße die verstärkten Anstrengungen, und die Bundeswehr ist bereits zentral in unseren Missionen in Afghanistan und Kosovo, als Führungsnation der Battlegroup in Litauen und momentan bei der "Speerspitze".

Dann hat die Verteidigungsministerin Unrecht und Deutschland hält sich gar nicht zurück?

Mich freut, dass sie den Wunsch ausdrückt, noch mehr zu tun. Die Bedrohungslage ist sehr komplex und schwierig geworden. Dafür müssen wir uns rüsten und die deutschen Beiträge sind willkommen.

Sie feiern im Dezember den 70. Geburtstag der Nato. Wie groß ist die Angst, dass der US-Präsident die Party versaut?

Donald Trump hat einen anderen Stil als seine Vorgänger, mit denen ich zusammengearbeitet habe. Aber er ist der Präsident der Vereinigten Staaten und wie ich schon sagte: Die Nato besteht aus 29 Ländern, die von verschiedenen Politikern vertreten werden, die mitunter starke Meinungen haben. Aber trotzdem halten wir zusammen. Das Treffen in London wird gut werden, und in meinen Augen sollte man sich vor allem dann an einen Tisch setzen, wenn es Differenzen gibt, und diese diskutieren.

Trump beschäftigt sich viel mit China, darüber wird auch in London geredet. Bringt die Angst vor Peking die Alliierten aus Europa und den USA näher zusammen?

China hat schon heute das zweitgrößte Militärbudget der Welt, sie haben viele Mittelstreckenraketen installiert, die gegen den INF-Vertrag verstoßen würden, wenn Peking ihm angehören würde. Seit 2014 hat China 80 neue Schiffe und U-Boote angeschafft, was dem Gesamtbestand der britischen Navy entspricht. Niemand will die Nato ins Südchinesische Meer schicken, aber wir müssen uns darüber bewusst werden, dass China aktiver wird: In der Arktis, in Afrika oder im Cyberspace. In den USA sorgen sich viele, dass Chinas Wirtschaft bald größer sein wird als die eigene. Darauf antworte ich: Zusammen verfügen Europa und die USA über die Hälfte der globalen Wirtschaftsmacht und das schlagkräftigste Militär. Das ist ein starkes Argument dafür, eng mit den Freunden zu kooperieren.

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