Süddeutsche Zeitung

Sicherheitspolitik:Frischzellenkur für die Nato

Experten um Ex-Verteidigungsminister Thomas de Maizière legen "interne Spannungen" in der Allianz offen. Sie fordern offenere Debatten der Verbündeten und einen Kodex gegen Alleingänge.

Von Daniel Brössler, Berlin, und Matthias Kolb, Brüssel

Einer ist schon zufrieden. Er habe vor einem Jahr "so etwas wie eine Frischzellenkur angeregt", um die Nato fit zu machen fürs nächste Jahrzehnt, sagt Heiko Maas vor der Videokonferenz der Außenminister der Verteidigungsallianz. Nachdem US-Präsident Donald Trump die Nato oft als "überflüssig" bezeichnet hatte, löste Frankreichs Präsident Emmanuel Macron mit seiner "Hirntod"-Diagnose im November 2019 eine neue Sinnkrise aus. Also wurde eine Reflexionsgruppe beauftragt, den Zustand der Nato zu analysieren und Reformen vorzuschlagen.

Ihr Bericht mit 138 Ideen liegt nun vor, und Maas hofft "auf ernsthafte Unterhaltungen". Dass der SPD-Politiker "keinen Bündnispartner erlebt" habe, "der nicht der Auffassung ist, dass es auch Dinge gibt, die wir in der Nato verbessern können", spricht dafür, dass die Realität nicht geleugnet wird.

Von "internen Spannungen" ist schon in der Einleitung des Berichts zu lesen, auch sonst wird wenig beschönigt. "In Nato-Ländern haben die Spannungen in der Gesellschaft zugenommen und die repräsentative Demokratie wird herausgefordert", steht auf Seite 5. Auch wenn keine Namen genannt werden, so ist ziemlich klar, welche der 30 Mitglieder gemeint sind: die Türkei, Ungarn, aber auch die USA, ohne deren militärische Stärke die Nato weiterhin undenkbar ist.

Eine neue Debattenkultur für die Nato fordern die Experten

Wegen der Corona-Pandemie haben sich die fünf Frauen und fünf Männer nie persönlich getroffen, aber im Video-Interview mit der Süddeutschen Zeitung wirkt Thomas de Maizière, der Ko-Vorsitzende der Reflexionsgruppe, trotzdem zufrieden. Das 67-Seiten-Werk soll Generalsekretär Jens Stoltenberg helfen, den Staats- und Regierungschefs beim nächsten Nato-Gipfel 2021 konkrete Schritte vorzuschlagen.

Vehement fordert de Maizière eine neue Debattenkultur: "In der EU wird auf hoher Ebene um Positionen gerungen und debattiert. Das kriegen die Bürger mit. Nichts davon erlebt man in der Nato", sagt der CDU-Politiker. Der ehemalige Verteidigungsminister weiß, wovon er spricht: "Die Treffen sind ritualisiert. Die Formate sind zu geschlossen. Wir brauchen einen anderen, einen offeneren Umgang miteinander."

Ein Verhaltenskodex soll Alleingänge wie die der Türkei unterbinden

Seit ihrer Gründung 1949 hat es in der Nato immer wieder interne Krisen gegeben, und nicht nur de Maizière führt den Erfolg der Allianz darauf zurück, sich laufend angepasst und auf das Wesentliche konzentriert zu haben. Die Reflexionsgruppe möchte, dass sich alle 30 Nato-Mitglieder auf eine Art "Verhaltenskodex" einigen und sich gegenseitig versichern, nicht militärisch aktiv zu werden, ohne sich vorher abzustimmen.

Dieser Vorschlag zielt vor allem ab auf den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan, dessen Vorgehen in Syrien und Libyen vor einem Jahr Macron zu seiner harschen Kritik veranlasst hatte. Seither wurde es nicht besser, wie Ankaras Konflikt mit dem Nato-Partner Griechenland im östlichen Mittelmeer, das Vorgehen in Bergkarabach oder der Test des russischen Raketenabwehrsystems S-400 gezeigt haben. Dies nahm Noch-Außenminister Mike Pompeo zum Anlass, in der Sitzung die Türkei im Namen der USA hart anzugehen und ihr vorzuwerfen, die Interessen der anderen Alliierten zu schädigen.

Vetorecht nur noch für Minister? Schwer vorstellbar

Dass Vorschläge zur Aufhebung des Einstimmigkeitsprinzips nie akzeptiert würden, weiß die Gruppe natürlich. Ihr gehörten neben dem zweiten Ko-Vorsitzenden Wess Mitchell aus den USA auch Frankreichs Ex-Außenminister Hubert Védrine, die Polin Anna Fotyga oder der Türke Tacan Ildem an. Eine größere politische Geschlossenheit ist ihr erklärtes Ziel, daher sollen sich etwa die Außenminister öfter und auch mal informell austauschen - oder die Finanzminister über die Kosten und Notwendigkeit von Verteidigungsausgaben beraten. Sie möchte auch verhindern, dass die Nato durch Blockaden auf der mittleren und höheren Beamtenebene gelähmt und Beschlüsse nicht umgesetzt werden.

Eine solche Blockade solle künftig nur noch auf Ebene der Minister möglich sein, sagt de Maizière: "Der politische Preis für ein Veto wird so höher." Diplomaten zufolge ist es vor allem die Türkei, die intern Sand ins Getriebe streut, sachfremde Dossiers miteinander verknüpft oder bilaterale Konflikte, die nichts mit der Nato zu tun haben, in die Allianz hineinträgt und den internen Zusammenhalt schwächt.

Empfohlen wird dringend, das strategische Konzept der Nato zu aktualisieren, was auch Stoltenberg fordert. So etwas dürfte bis etwa 2022 dauern, aber die Allianz muss sich schon jetzt viel stärker mit China befassen. Im Bericht wird die Volksrepublik wie Russland als "systemischer Rivale" bezeichnet, allerdings ohne eine direkte militärische Bedrohung für die Nato darzustellen - noch nicht. Die Nato müsse aber dringend eine China-Strategie entwickeln, denn "die Volksrepublik ist eine Weltmacht und beansprucht eine globale Führungsrolle", sagt de Maizière.

Er warnt, dass alles, was China tue, auch die Nato-Staaten betreffen könne: Sei es bei Investitionen in Infrastrukturprojekte, also wenn etwa Häfen in Europa aufgekauft werden, oder auch bei neuen Technologien wie dem 5G-Mobilfunkstandard oder Desinformation.

Partnerschaft mit Russland - diese Träume sind vorbei

Im Nato-Reformbericht, der 2010 unter Leitung der früheren US-Außenministerin Madeleine Albright verfasst wurde, fand sich das Wort China kein einziges Mal, die Bedrohung durch Terrorismus wurde nur gestreift - und die Experten empfahlen, mit Russland eine "strategische Partnerschaft" einzugehen.

Diese Träume sind vorbei: Nachdem Russland die ukrainische Halbinsel Krim 2014 völkerrechtswidrig annektiert hat, hat die Nato viele Milliarden investiert und Soldaten auf rotierender Basis nach Polen und in die baltischen Staaten verlegt, um die Bündnispartner zu schützen. Auch das US-Militär ist wieder präsenter. Im Umgang mit Moskau wird empfohlen, den zweigleisigen Ansatz aus Abschreckung und Dialog fortzusetzen. Es liege an Russland, dass Gesprächsangebote nicht angenommen würden, betont de Maiziére. Die Türen sollten weiter offen bleiben.

Fertiggestellt wurde der Bericht nach der US-Präsidentschaftswahl. Der Frage, ob eine zweite Amtszeit Trumps die Umsetzung ihrer Vorschläge unmöglich gemacht hätte, weicht er aus. Durch den Sieg des Demokraten Joe Biden würden die Anforderungen an die Europäer in der Nato aber noch größer, sagt der Ex-Verteidigungsminister: "Die Ausrede, die Tonlage von Donald Trump sei unzumutbar und deswegen ignoriere man amerikanische Forderungen, fällt weg."

Für ihn bleibt die Nato die "Lebensversicherung" für Deutschland, doch das Bündnis müsse seine Relevanz aufs Neue beweisen. Die Arbeit in der internationalen Gruppe habe ihm verdeutlicht, dass so manche Debatte sehr deutsch sei: etwa jene über das verabredete Ziel, bis 2024 zwei Prozent der Wirtschaftsleistung in Verteidigung zu stecken. Er wünscht sich, dass in der Öffentlichkeit "offener und ohne übertriebene Schärfe über neue russische Waffensysteme" sowie über die "Kosten von Sicherheitspolitik oder nukleare Abschreckung" gesprochen wird.

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