Seitdem die Nato im August 2003 die Führung der Internationalen Schutztruppe Afghanistan (Isaf) übernahm, spielt sich jedes Jahr das Gleiche ab. Meist im Frühjahr versicherte der Oberkommandierende der Allianz, dass die Truppen, die man nun anfordere, jetzt aber auch wirklich ausreichten, den Job zu erledigen.
Gestimmt hat das nie. Und so wurden es Jahr für Jahr immer mehr. Denn die Sicherheitslage wurde immer schlechter, die Taliban kamen zurück und, wie man im lange Zeit ruhigen Norden des Landes sehen kann, haben sie Boden gegen die Nato gutgemacht.
Was man am Anfang glaubte, mit einigen tausend Soldaten regeln zu können, wuchs sich zu einem Aufmarsch gewaltigen Ausmaßes aus. Die Zahl der Isaf-Soldaten beläuft sich gegenwärtig auf etwas über 100.000. Und wenn demnächst alle der 30.000 zusätzlichen Soldaten gelandet sind, die US-Präsident Barack Obama an den Hindukusch schickt, um der Sache endlich ein Ende zu bereiten, und auch weitere 10.000 aus den übrigen Isaf-Ländern wie versprochen kommen, dann werden an die 130.000 fremde Soldaten in dem Land stehen.
Denen begegnen die Afghanen inzwischen mit sinkender Zuneigung und erinnern sie - wie zuletzt Präsident Hamid Karsai - immer unverblümter daran, dass sie hier Gäste, die Afghanen aber die Hausherrn sind.
Die politische Geduld mit der Kriegsführung läuft in Kabul aus. Wenn Karsai von acht Jahren Krieg spricht, der nichts gebracht habe, dann heißt das für die Nato, dass sie schnell Erfolge liefern muss. Die Zeit wird knapp. Darum sei dieses Jahr nun aber wirklich "das Jahr der Entscheidung", sagt der ehemalige kanadische General Serge Labbé, der höchste zivile Berater der Nato im Isaf-Hauptquartier in der afghanischen Hauptstadt.
Und das Objekt, an dem die Nato ihren Nutzen für Afghanistan beweisen muss, heißt Kandahar. Die Halbmillionenstadt und die umgebende Provinz sind das Kernland der Taliban. Hier residierte deren Führer Mullah Omar bevor er 2001 von den Alliierten vertrieben wurde.
Kandahar und die benachbarte Provinz Helmand sind Zentren des Drogenhandels, aus dem sich auch die Taliban finanzieren. Die Gotteskrieger aus Kandahar zu vertreiben und sie draußen zu halten, wäre der Erfolg, den die Nato so dringend braucht.
Die Nato braucht ihn nicht nur, weil jene Mehrheit unter den Afghanen, die nie mehr unter dem Taliban-Terror leiden wollen, dann wieder Hoffnung schöpfen könnte. Sondern auch, weil ein Misserfolg unvermeidlich die Frage nach sich zieht, wozu das nordatlantische Bündnis denn eigentlich gut sei, wenn es nicht einmal mit einem Einsatz wie in Afghanistan fertig wird. In der Führung der Nato heißt es deshalb von Jahr zu Jahr immer drängender, aber auch immer besorgter, dass Afghanistan ein "Erfolg werden muss".
Serge Labbé packt das mit Blick auf Kandahar in die kurze Formel: "Wir haben keinen Spielraum für Versagen." Und er sagt auch noch, dass "die Zeit nicht für uns spielt". In der Tat ist die Zeit zu einem entscheidenden Faktor geworden. Die Nato hat faktisch nur bis zum Sommer Zeit, Kandahar unter ihre Kontrolle zu bringen.
Der amerikanische General Stanley McChrystal möchte die Kandahar-Kampagne bis zum 11. August durchgezogen haben, weil dann der Ramadan beginnt, die heilige Fastenzeit der Muslime. Den Einsatz kann er aber vermutlich nicht vor Mitte Mai beginnen. Denn noch ist der Aufmarsch der zusätzlichen Truppen nicht abgeschlossen, die er für Kandahar braucht, wenn er den Rest des Landes nicht entblößen will.
Derzeit sind außerdem etwa 10.000 von McChrystals Soldaten in Helmand gebunden, wo sie in den vergangenen Wochen die Taliban aus Mardschah vertrieben haben. Eine Stellung, die sie nun gemeinsam mit der afghanischen Armee zu halten versuchen und auch nicht aufgeben können, sonst ergibt die Aktion in Kandahar keinen Sinn.
Da Kandahar aber eine wesentlich größere Mission ist als Mardschah, rechnet man im Isaf-Hauptquartier in Kabul mit einem "mehrfachen Bedarf" an Soldaten. Offizielle Zahlen gibt es zwar nicht, aber Militärexperten rechnen mit 30.000 bis 40.000 Isaf-Soldaten plus 10.000 bis 15.000 allerdings schlecht ausgebildeten und ausgestatteten afghanischen Soldaten. Wie stark ihr Gegner in Kandahar wirklich sein wird, vermag oder wagt niemand bei der Isaf zu sagen. Der Abgeordnete Khalid Pashtoon aus Kandahar glaubt, Anzeichen dafür zu haben, dass die Taliban bereits dabei sind, im Süden des Landes, wozu Kandahar gehört, eine "zweite Führungsebene" aufzubauen.
Die Nato muss sich auch deswegen beeilen, weil ihr Afghanistan politisch zu entgleiten droht. Präsident Karsai kalkuliert - vorsichtiger Politiker, der er ist - offensichtlich bereits eine Zukunft ein, in der er die Taliban an der Macht beteiligen muss, und geht mehr oder weniger diskret schon einmal auf Distanz zum Westen. Als wäre das nicht Problem genug, gehen der Nato zu Hause die Völker von der Fahne.
Der Afghanistan-Krieg ist unpopulär, und der Ruf nach Abzugsterminen wird immer lauter. Die Truppenzahl noch einmal zu erhöhen, gilt unter Politikern als fast unmöglich. Kandahar "muss uns gelingen", heißt es in der Führung der Nato. Denn der Kampf um die Taliban-Hochburg entschiede nicht nur über die Macht in Afghanistan - sondern auch über die Zukunft der Nato.