Süddeutsche Zeitung

Nato-Eingreiftruppe:Nur 48 Stunden

  • Eine Anfang 2015 gegründete Eingreiftruppe der Nato soll im Krisenfall innerhalb von 48 Stunden einsatzbereit sein.
  • Damit reagiert die Nato auf die Annexion der Krim, den Krieg im Osten der Ukraine und den Vormarsch des IS.
  • In Deutschland sind die genauen politischen Abläufe noch ungeklärt. Die Grünen befürchten, das Parlament könnte übergangen werden.

Von Daniel Brössler, Eindhoven, und Christoph Hickmann, Marienberg

Das Wichtigste? "Essen und Trinken", sagt Unteroffizier Kim. Zehn Halbliter-Flaschen Wasser hat der Niederländer in seinen Rucksack gepackt. Außerdem vier militärische Fertiggerichte. "Hühnchen oder Gulasch", erläutert er.

Verpflegung ist das, die für zwei Tage reichen muss. Kims Rucksack, etwa 25 Kilo schwer, ist jederzeit gepackt. Für ihn und seine achtköpfige Gruppe, Teil der 11. luftbeweglichen Brigade der niederländischen Streitkräfte, sei die Sache mit den 48 Stunden insofern auch kein Problem, sagt er.

48 Stunden lang ist jene Frist, die sich die Nato für die schnellsten Teile ihrer neuen Speerspitze gesetzt hat. Innerhalb dieser Zeit soll die etwa 5000 Soldaten starke superschnelle Eingreiftruppe in Marsch gesetzt werden können, etwa um im Krisenfall einem baltischen Nato-Staat den Rücken zu stärken.

Die Speerspitze ist eine der Antworten der Nato auf die Annexion der Krim, den Krieg im Osten der Ukraine, aber auch den Vormarsch der Terrormiliz "Islamischer Staat". Seit Anfang des Jahres existiert die superschnelle Eingreiftruppe. Provisorisch bisher, aber - wie die Nato beteuert - nicht nur auf dem Papier. Zeigen soll das die Übung Noble Jump, an der etwa 1500 Soldaten aus elf Nato-Ländern beteiligt sind.

Eine logistische Herausforderung

Was dabei in den Niederlanden und zeitgleich in Tschechien geübt wird, klingt aus Zivilistensicht nicht eben undurchführbar. Es geht darum, spätestens 48 Stunden nach der Alarmierung am Flughafen zu sein - was auch zur Zufriedenheit der Kommandeure gelingt.

Rechtzeitig checken die letzten Soldaten an Schalter 3 und 4 am Militärflughafen in Eindhoven ein. Dabei haben sie die Rucksäcke sowie Seesäcke mit schusssicherer Weste und Helm. Natürlich habe man auch in der seit 2003 existierenden Nato-Eingreiftruppe (NRF) schon schnell sein müssen, räumt Brigadegeneral Kees Matthijssen, Kommandeur der 11. luftbeweglichen Brigade, ein.

"Was neu ist, sind die 48 Stunden. Das ist eine sehr viel kürze Alarmzeit als in der NRF", sagt er. Das sei vor allem logistisch eine Herausforderung. So sei sicherzustellen, dass die Soldaten mit ihrer Ausrüstung und Munition im selben Flugzeug transportiert werden. Hinzu komme die Bürokratie, die etwa beim Lufttransport von Waffen anfalle. Dafür habe man bisher "zu wenig Zeit reserviert".

"Marienberger Jäger" haben etwas mehr Zeit

In Marienberg, Sachsen, musste man nicht ganz so schnell sein. Dort tritt am Freitagvormittag in der Erzgebirgskaserne das Panzergrenadierbataillon 371 vor Generalleutnant Jörg Vollmer an, dem stellvertretenden Inspekteur des Heeres. Die Soldaten stehen in Reihen vor der noch längeren Reihe ihrer Fahrzeuge, darunter Schützenpanzer vom Typ Marder.

Der Anteil der "Marienberger Jäger" an der Übung Noble Jump bestand darin, in fünf Tagen abmarschbereit zu sein - oder, wie das bei der Bundeswehr heißt, die "Verlegebereitschaft herzustellen". Zehn Minuten vor elf nimmt Vollmer die Meldung entgegen, dass dieses Ziel erreicht sei. Und zwar, wie er später sagt, "mit erstaunlicher Ruhe". Es sei "keine Hektik" entstanden.

Die Marienberger stellen den Kern des deutschen Gefechtsverbands, der bereits vor längerer Zeit als Kampftruppe für die NRF eingeteilt war und diese Rolle nun 2015 in der Erprobungsphase der superschnellen Eingreiftruppe übernimmt. Der Gefechtsverband besteht aus insgesamt 960 Soldaten, davon etwas mehr als 400 aus der Erzgebirgskaserne.

Warum sie drei Tage mehr Zeit als die Niederländer haben, bis sie abmarschbereit sein müssen, wird schon beim Blick auf ihr schweres Gerät klar. Außerdem sollen die Soldaten, im Gegensatz zur ersten Vorhut, dauerhaft in einem etwaigen Einsatzgebiet durchhalten können. Entsprechend viele Frachtcontainer stehen an diesem Freitag in der Erzgebirgskaserne, voll mit Ausrüstung, die in den Tagen zuvor verstaut wurde. Ginge es jetzt tatsächlich los, müsste man sie nur noch verladen.

Die Bundeswehr muss einen enormen Aufwand betreiben, um diese Bereitschaft herzustellen - etwa so, als gäbe es einen zusätzlichen Einsatz. Material, das in allen Teilen der Truppe fehlt, musste extra zusammengekratzt und den Marienbergern zur Verfügung gestellt werden - beispielsweise Nachtsichtgeräte, die dafür nun anderswo für die Ausbildung fehlen.

Mittlerweile allerdings, heißt es bei der Truppe, habe man nahezu alles beisammen, abgesehen von wenigen Posten wie Spezialnachtsichtgeräten für Kraftfahrer.

Die Alarmierungsübung, sozusagen das Sammeln und Verpacken, hat also in der vorgesehenen Zeit funktioniert. Im Mai soll der Gefechtsverband das sogenannte Verlegen üben - erst einmal zum Truppenübungsplatz Bergen in der Lüneburger Heide, wo dann, unterstützt auch durch Artillerie, das Gefecht geübt wird.

Danach wird ein Teil der Truppe übungshalber nach Polen transportiert. Darum geht es im Juni, beim zweiten Teil von Noble Jump. Dann wird in mehreren Nato-Ländern nicht nur geübt, rechtzeitig am Flughafen zu sein, sondern auch tatsächlich geflogen - nach Polen auf den Truppenübungsplatz Żagań.

Politischen Abläufe in Deutschland noch unklar

Doch was wäre eigentlich, falls es tatsächlich einmal zum Einsatz der Eingreiftruppe käme - zum Beispiel, weil sich das kleine Estland durch russisches Säbelrasseln bedroht fühlt? Anders als im Manöver könnten dann ja nicht einfach Soldaten den Marschbefehl erteilen - es müsste eine politische Entscheidung geben.

Bisher gibt es kein festgelegtes Prozedere für die Entsendung der Speerspitze. Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg stellt sich "effiziente Entscheidungsmechanismen" vor, die auch die "politische Kontrolle" sicherstellen. Wird die Speerspitze im Krisenfall vom Nato-Kommandeur für Europa, derzeit US-General Philip Breedlove, entsendet, dürfte es nicht ohne grünes Licht des Nato-Rates gehen.

Was aber, wenn es sich bei der Entsendung offiziell nur um eine Übung handelt?

Gerade in Deutschland ist die Frage heikel, die Grünen etwa haben bereits die Befürchtung vorgetragen, das Parlament könnte übergangen werden. Dem tritt das Verteidigungsministerium entgegen: In jedem Fall werde der Bundestag entscheiden. So richtig fest stehen auch die politischen Abläufe allerdings noch nicht. Sie müssen, wie auch die militärischen, in diesem Probejahr erst noch definiert werden.

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Quelle:
SZ vom 11.04.2015/frdu
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