Mit freiwilligen Selbstverpflichtungen hat die Nato keine guten Erfahrungen gemacht. Auf eine ehrgeizige Formulierung in einem Gipfeldokument können sich die Mitgliedsländer leicht einigen - sofern diese nur genügend Schlupflöcher enthält, damit man sich in der Praxis nicht daran halten muss.
Ein eklatantes Beispiel für diesen Mechanismus ist die Vorgabe der Nato an ihre Mitglieder, jedes Jahr eine Summe in ihre Verteidigung zu investieren, die zwei Prozent der Wirtschaftsleistung des Landes entspricht. Dieses sogenannte Zwei-Prozent-Ziel haben die Nato-Regierungen bereits 2014 bei einem Gipfeltreffen in Wales verabschiedet, allerdings in sehr vage Worte verpackt. Die zwei Prozent seien ein "Richtwert", man werde sich "vornehmen", ihm "näher zu kommen". In der Realität haben die meisten Nato-Staaten diese wachsweiche Zusage dann ignoriert. 2022 lagen nur neun der damals 30 Nato-Länder über der Zielmarke.
Eine Aufstockung auf 2,5 oder gar drei Prozent ist kaum durchsetzbar
Diesen Fehler will die Nato beim nächsten Gipfeltreffen nicht wiederholen. Die Allianz trifft sich am 11. und 12. Juli in der litauischen Hauptstadt Vilnius - nicht allzu weit entfernt von dem Krieg, der in der Ukraine tobt und der der Nato ihre eigene Gefährdung höchst plastisch vor Augen geführt hat. Die neue Sicherheitslage, die durch Russlands Überfall auf das Nachbarland entstanden ist, "lässt mehr und mehr Staaten zu der Einsicht kommen, dass wir mit weichen Appellen nicht mehr weiterkommen", so ein Diplomat.
In den Nato-Botschaften in Brüssel wird daher nach einer härteren Formulierung gesucht, die man in Vilnius in die Gipfelerklärung schreiben kann. Die Ansichten der Nato-Länder gehen dabei weit auseinander. Vor allem die USA, die baltischen und osteuropäischen Länder, die jetzt schon deutlich mehr als zwei Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts (BIP) in ihr Militär investieren, wollen hohe, konkrete, möglichst verbindliche Vorgaben. Andere Länder hingegen, deren Verteidigungsausgaben näher bei einem als bei zwei Prozent liegen, hätten nichts dagegen, die alte Formulierung von 2014 beizubehalten.
Doch das ist angesichts des Kriegs in der Ukraine kaum möglich. Ebenso wenig scheint eine offizielle Aufstockung der zwei Prozent auf 2,5 oder gar drei Prozent durchsetzbar, wie die Balten sie fordern. Das könnten viele Nato-Länder finanziell kaum stemmen. Diplomaten erwarten daher einen Kompromiss: Die zwei Prozent werden in Vilnius nicht mehr als anzustrebendes Ziel definiert, sondern als Mindestbetrag - nicht mehr als Decke, sondern als Fußboden, wie Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg es ausdrückt. Gekoppelt werden könnte das mit dem Versprechen aller Nachzügler, diese Investitionssumme "sofort und nachhaltig" zu erreichen, sagt ein Diplomat.
Deutschland ist mit zwei Prozent einverstanden. Eigentlich
Deutschland, das seit Jahren weniger als zwei Prozent des BIP für Verteidigung ausgibt, ist mit diesem Mittelweg einverstanden. Die Bundesregierung wolle das Zwei-Prozent-Ziel im kommenden Jahr "erreichen und langfristig halten", sagte Verteidigungsminister Boris Pistorius am Freitag bei einem Treffen mit seinen Nato-Kollegen in Brüssel.
Doch auch Berlin vermeidet, sich allzu sehr festzulegen. Der Grund: Geld. Die Bundesregierung hat nach dem russischen Überfall auf die Ukraine ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr beschlossen. Bisher kann sie diese Mittel nach den Nato-Kriterien aber nicht in ihre Verteidigungsinvestitionen hineinrechnen, weil das Geld noch nicht ausgegeben wurde. Sobald das der Fall ist, wird Deutschland aber wohl die Zwei-Prozent-Zielmarke erreichen.

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Die Frage ist: Wie geht es weiter, wenn das Sondervermögen verbraucht ist? Derzeit gibt Deutschland etwa 1,5 Prozent seines BIP für Verteidigung aus. Um das Zwei-Prozent-Ziel zu schaffen, müsste der Militäretat um gut ein Drittel steigen, das wäre pro Jahr ein zweistelliger Milliardenbetrag zusätzlich. Ob das realistisch ist, ist offen. In der gerade vorgestellten Nationalen Sicherheitsstrategie der Bundesregierung wurde daher eine vorsichtige Formulierung benutzt. Deutschland werde den Zwei-Prozent-Beitrag "im mehrjährigen Durchschnitt erbringen", heißt es dort. Das klingt schon wieder fast wie ein Schlupfloch.