Nato-Gipfel:Die Nato will wieder abschrecken können

Nato-Gipfel: Vertreter der USA sprechen in Warschau mit den Spitzen der EU.

Vertreter der USA sprechen in Warschau mit den Spitzen der EU.

(Foto: Mandel Ngan/AFP)
  • Am ersten Tag des Gipfeltreffens sind Zweifel zu spüren: Wegen des Brexit fürchtet der Westen um seine Einheit.
  • Das Militär-Bündnis besinnt sich dem ursprünglichen Zweck ihrer Allianz - der Abschreckung.
  • Russland ist das beherrschende Thema des Treffens. Doch auch der Nahe Osten und Nordafrika birgt Herausforderungen.

Von D. Brössler, F. Hassel und T. Matern, Warschau

Jens Stoltenberg ist sich, und darum geht es ja, ganz sicher. Der Warschauer Nato-Gipfel, der schon im Vorhinein als historisch gefeiert wird, hat noch nicht richtig begonnen, da wird der Generalsekretär der mächtigsten Militärallianz der Welt nach den Folgen des Brexit gefragt. Ist das ein Sicherheitsrisiko? Er sei, sagt Stoltenberg, "sicher, dass wir weiterhin eine Europäische Union sehen werden, die sich stark darauf konzentriert, zu Frieden und Sicherheit beizutragen". Und natürlich werde auch ein Großbritannien außerhalb der EU ein Pfeiler der Nato bleiben. So und ähnlich werden das in den nächsten Stunden noch viele sagen. Nur ist es eben wie so oft: Mit der Vehemenz der Beteuerung wachsen die Zweifel.

Es ist, als habe sich der Westen im Nationalstadion von Warschau zu einem Wettbewerb in Sachen Selbstvergewisserung versammelt. Der Gipfel werde "Stärke, Einheit und Wirksamkeit" der Nato zeigen, sagt der Gastgeber, Polens Präsident Andrzej Duda. "Die Nato wird ein weiteres Mal", verkündet Stoltenberg, "eine sehr klare Botschaft senden, dass wir hier sind, um alle Verbündeten in einem veränderten und von größeren Herausforderungen gekennzeichneten Sicherheitsumfeld zu verteidigen".

Da ist natürlich Russland auf der einen Seite gemeint und die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) auf der anderen Seite. Aber in Warschau ist das Unbehangen darüber zu spüren, dass die Gefahren nicht nur Äußere sind. Es ist US-Präsident Barack Obama, der das in fast brutaler Offenheit formuliert.

Der Präsident hebt an zu einem Loblied auf die europäische Integration

"Das Votum in Großbritannien, die EU zu verlassen, hat Unsicherheit über die Zukunft der europäischen Integration hervorgerufen", sagt er nach einem Treffen mit den Präsidenten von Rat und Kommission der EU, Donald Tusk und Jean-Claude Juncker. "Unglücklicherweise ziehen manche den Schluss, dass das ganze Gebäude der europäischen Sicherheit und Prosperität zerbröckelt", beklagt der Präsident, der zu seinem letzten großen Auftritt nach Europa gekommen ist. Solcher Alarmismus aber sei fehl am Platze, beschwichtigt Obama. Und hebt an zu einem Loblied auf die europäische Integration. Tusk, der Ratspräsident, ruft in Richtung "unserer Gegner im Inneren und Äußeren", dass sie nach dem Brexit vergeblich auf zwei Worte warten würden: "Fortsetzung folgt."

Zur Übung der Selbstvergewisserung gehört auch eine Erklärung, die Tusk, Juncker und Stoltenberg für die EU und Nato unterzeichnen. Sie soll eine Allianz der Bündnisse besiegeln. "Eine stärkere Nato und eine stärkere EU verstärken sich gegenseitig. Zusammen können sie besser für Sicherheit in Europa und darüber hinaus sorgen", heißt es darin. Mit der EU und der Nato ist es eine seltsame Geschichte. 22 Staaten sind Mitglied beider Organisationen, beide haben ihr Hauptquartier in Brüssel, und doch schien es, wie Tusk sagt, in der Vergangenheit so, als befänden sie sich auf "unterschiedlichen Planeten".

Abschrecken statt erschrecken

Ein Begriff, der das Wort "Schrecken" enthält, weckt keine guten Gefühle. Aus dem Kalten Krieg ist noch das "Gleichgewicht des Schreckens" in Erinnerung, was bedeutete, dass beide Blöcke so hochgerüstet waren, dass ein Angriff auf den anderen unausweichlich die eigene Vernichtung nach sich gezogen hätte. So vermischten sich "abschrecken" und "erschrecken" zu einem einzigen Begriffsteig.

Gerade in spannungsreichen Zeiten ist Begriffsklarheit wichtig: Erschrecken würde bedeuten, anderen Ländern Angst einzujagen, ihnen zu drohen, verbal oder durch Taten, indem zum Beispiel Kurzstreckenraketen an der Grenze aufgestellt werden. Abschreckung bedeutet, einen möglichen Gegner davon zu überzeugen, dass ein Angriff keine Aussicht auf Erfolg hätte. Aktuell geht es darum, dass Europa erlebt hat, wie Russland mit vergleichsweise kleinen Verbänden, gut getarnt, diplomatisch verschleiert und unter Aktivierung der lokalen, russischsprachigen Bevölkerung die Krim annektiert und einen Krieg in der Ostukraine gestartet hat. Eine schnelle Reaktionstruppe der Nato soll Polen und Balten die Sicherheit geben, dass sich das bei ihnen nicht wiederholt. Und dafür sorgen, dass in Moskau niemand auf die Idee kommt, das bewährte Szenario auch dort auszuprobieren. Für einen Angriff sind 4000 Mann zu wenig. Zum Vergleich: Russland hatte auf der Krim zur Zeit der Annexion nach eigenen Angaben 25 000 Soldaten im Einsatz. Julian Hans

Truppen in Bataillonsstärke nach Polen, Estland, Lettland und Litauen

Russlands Treiben im Osten der Ukraine hat beide Bünde nun näher zusammenrücken lassen. Experten der Nato und der EU haben ihre Strategien gegen "hybride" Bedrohungen abgestimmt - gegen Szenarien also, in denen Politik, Propaganda und Militärmacht verschmelzen. In der Erklärung verständigen sich EU und Nato auf "koordinierte Prozeduren". Keiner allein habe die nötigen militärischen und zivilen Instrumente, sagt ein Nato-Mann. Bestehen könne man nur zusammen.

Die entscheidende Antwort auf die russische Herausforderung aber will die Nato dann doch allein geben. Sie verbirgt sich hinter der Chiffre "Verstärkte Vorne-Präsenz". Der Gipfel entscheidet, je eine multinationale Kampftruppe in Bataillonsstärke, also etwa tausend Soldaten, nach Polen, Estland, Lettland und Litauen zu entsenden. In Litauen trägt Deutschland als "Rahmennation" die Hauptlast.

"Die Nato sucht keine Konfrontation. Wir wollen keinen Kalten Krieg", wiederholt Generalsekretär Stoltenberg ein ums andere Mal. Aber die Nato müsse in der Lage sein, ihre Mitglieder zu verteidigen. Polens Präsident Duda wird deutlicher. Die Nato müsse "hier in Warschau beweisen, dass sie immer noch eine lebende Allianz ist; sie muss ihre Abschreckung bedeutend stärken", damit eine "Politik der Erpressung und Aggression sich nicht bezahlt macht".

Zurück zur Abschreckung

Polens Außenminister Witold Waszczykowski geht noch weiter: "Russland ist ein großer Exporteur von Instabilität. Wir müssen uns von pragmatischer Kooperation mit Russland verabschieden, solange es fortfährt, bei seinen Nachbarn einzumarschieren." Russland habe "niemals eine Garantie bekommen, seine Nachbarn auf ewig zu dominieren" - oder sich in der Frage einzumischen, wer in Polen Militärübungen abhalte und wer nicht.

Im Juni hielt Polen mit den USA und anderen Ländern eine große Militärübung ab, nach der Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier vor unnötigem "Säbelrasseln" warnte. Waszczykowski weist derlei Kritik zurück: Militärische "Präsenz ist keine Provokation - ihre Abwesenheit ist es." Soll heißen: Russland würde sich angezogen fühlen durch Schwäche.

Das ist auch die amerikanische Haltung. Der stellvertretende US-Verteidigungsminister James Townsend sagt in einer Expertenrunde, die USA seien erst am Anfang eines militärischen Wiederaufbaus in Europa. In den vergangenen 15 Jahren habe das europäische US-Kommando "nur eine unterstützende Funktion" für US-Einsätze außerhalb Europas gehabt. "Jetzt machen wir es wieder zu einem echten Militärkommando - das ist ein fundamentaler Wechsel", erklärt er. Russland sei auf gutem Wege, bis 2020 gut zwei Drittel seines Militärarsenals zu erneuern und baue internationale Stützpunkte wieder aus. "Wir müssen darauf reagieren", sagt Townsend. Die Nato und die USA müssten in Osteuropa von "Zusicherungen" für die osteuropäischen Nato-Länder wieder zu "Abschreckung" übergehen. Abschreckung aber sei "nur wirksam, wenn man auch tatsächlich in der Lage ist, einen Feind zu besiegen".

Jens Stoltenberg

"Der Kalte Krieg ist Geschichte, und er sollte Geschichte bleiben."

Die Logik der Abschreckung ist zumindest grundsätzlich eine, auf die sich alle Nato-Staaten in Warschau verständigen können. Vom gemeinsam erklärten Ziel, zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung auszugeben, sind die meisten Nato-Staaten - zum Verdruss der USA - zwar noch weit entfernt. Nach Jahren schrumpfender Verteidigungsausgaben steigen sie nach einer Nato-Statistik aber wieder, in der ganzen Allianz um drei Prozent. Auch das gehört zur Botschaft der Stärke, die von Warschau ausgehen soll.

Russland ist das beherrschende Gipfel-Thema. Doch im Süden warten andere Gefahren

So für sich soll die Botschaft aber nicht stehen bleiben. "Ich habe noch einmal deutlich gemacht, dass es auf der einen Seite bei der Nato um Verteidigungsfähigkeit natürlich geht, auf der anderen Seite aber immer um den Dialog mit den entsprechenden Nachbarregionen, denen wir uns zuwenden", sagt Bundeskanzlerin Angela Merkel im Anschluss an die erste Arbeitssitzung - und verweist auf eine Sitzung des Nato-Russland-Rates am kommenden Mittwoch.

Zwar ist die durch Russland empfundene Bedrohung das beherrschende Thema des Warschauer Gipfels. Vor allem die südlichen Mitglieder aber plagen andere Sorgen. Gastgeber Duda weiß das. Die Herausforderungen im Nahen Osten, in Nordafrika, denen sich auch die Nato gegenübersehe, seien genau wie die Stärkung der "Ostflanke" parallel existierende Prioritäten und "keine Widersprüche", erklärt er. Die Nato will - nach langem Zögern vor allem Deutschlands - Awacs-Flugzeuge bereitstellen, die zur Luftraumüberwachung gegen den Islamischen Staat eingesetzt werden sollen. Vom Gebiet des Bündnispartners Türkei aus sollen sie nach Syrien und in den Irak hinein spähen.

Der Nato gehe es darum, Stabilität zu exportieren, sagt Stoltenberg. So ist auch die dramatisch schlechte Sicherheitslage im Irak ein Thema. Die irakische Regierung hatte sich von der Allianz Hilfe bei der Ausbildung der Sicherheitskräfte gewünscht, seit April bildet das Bündnis 350 irakische Offiziere in Jordanien weiter. Die Nato plant nun, das Training auf irakischem Boden abzuhalten. Ausbildungshilfe will die Allianz auch Libyen anbieten, das beim Wiederaufbau einer Küstenwache unterstützt werden soll. Allerdings sieht sich die Nato hier als Juniorpartner der EU, die mit ihrer Anti-Schlepper-Mission Sophia schon vor der Küste Libyens aktiv ist. Die Nato könnte der EU auch helfen, das Lagebild vor Ort zu verbessern und das UN-Waffenembargo durchzusetzen.

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