Zweieinhalb Stunden sind für die Arbeitssitzung der Staats- und Regierungschefs der Nato am Mittwochmittag eingeplant – die einzige beim diesjährigen Gipfeltreffen der Allianz in Den Haag, der am Dienstagabend mit einem Festessen beim niederländischen König beginnt. Die Erklärung, die bei diesem kurzen Beisammensein angenommen werden soll, ist ähnlich knapp: eine Seite. „Buchstäblich – A4“, sagt ein Nato-Diplomat und zeichnet mit den Zeigefingern die eckigen Umrisse eines Blatts Papier in die Luft.
Das ist ungewöhnlich. Normalerweise nehmen sich die Staats- und Regierungschefs bei Nato-Gipfeln deutlich länger Zeit für einander. Und sie verabschieden eigentlich auch ausführlichere, mehrseitige Erklärungen. Aber weil dieses Jahr wieder US-Präsident Donald Trump dabei ist, der zeitraubende Sitzungen und Dokumente mit zu viel Text nicht mag, soll alles kurz, knapp und konzise sein. „Short and sweet“, wie es in Brüssel im Nato-Hauptquartier heißt.
„Den Amerikanern hätte eine Abschlusserklärung gereicht, die einen einzigen Satz enthält: Die Nato-Partner verpflichten sich, ihre Verteidigungsausgaben auf fünf Prozent der Wirtschaftsleistung zu erhöhen“, sagt ein Diplomat. Mehr will Trump nicht von diesem Gipfel.
Die Gipfelteilnehmer werden nur einen Beschluss fassen
Und genau das wird Trump bekommen, denn genau das hat er, der Präsident und Oberbefehlshaber des mit Abstand wichtigsten Nato-Landes, schließlich im Januar gefordert, mehr aus einer Laune heraus, aber das ist egal: Der einzige handfeste Beschluss, den die 32 Staats- und Regierungschefs der Nato in Den Haag fassen werden, ist ebendiese Anhebung der jährlichen Verteidigungsausgaben. Bisher lag die Nato-Zielmarke bei zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP), spätestens von 2035 an, so der neue Plan, sollen alle Mitglieder der Allianz jedes Jahr satte fünf Prozent ihrer Wirtschaftsleistung in ihre Verteidigung investieren – eine Steigerung um gewaltige 150 Prozent binnen zehn Jahren. Aus europäischer Sicht, und wohl auch amerikanischer, ist das der Preis, den Europa bezahlen muss, um Amerika – genauer: Trump – in der Allianz zu halten.
Immerhin hat Nato-Generalsekretär Mark Rutte es in geschickten Verhandlungen mit Trump geschafft, diese fünf Prozent, die Hunderten Milliarden Euro an zusätzlichen Kosten entsprechen, auf zwei Kategorien aufzuteilen. Erstens: 3,5 Prozent des BIP sollen in Ausgaben für klassische „harte“ Verteidigungsausgaben gemäß den Nato-Kriterien fließen. Mit dem Geld sollen also Rüstungsgüter, Waffen, Munition und natürlich Soldaten und Soldatinnen bezahlt werden, um Europa zu schützen.
Diese Zahl ist nicht frei aus der Luft gegriffen. 3,5 Prozent des BIP entspricht in etwa der Summe, die nach Berechnungen der Nato jedes Mitgliedsland investieren muss, um seinen festgelegten militärischen Beitrag im Rahmen der Verteidigungspläne der Allianz erfüllen zu können. Diese sogenannten Fähigkeitsziele, die jedem Land vorgeben, welche Art und Anzahl militärischer Kapazitäten es vorhalten muss, hat die Nato nach dem russischen Überfall auf die Ukraine an die neue Bedrohungslage angepasst. Vor einigen Wochen wurden sie offiziell und einstimmig verabschiedet.
Mark Ruttes Plan ist im Grunde ein Rechentrick
Die zweite Ausgabenkategorie, die bei 1,5 Prozent des BIP liegen soll, umfasst das, was die Nato jetzt „verteidigungs- und sicherheitsrelevante Ausgaben“ nennt. De facto ist das eine Art Trump-Prämie, um die Differenz zu den fünf Prozent aufzufüllen. Die Definition, was die Nato-Regierungen unter diesem Etikett verbuchen dürfen, ist allerdings hinreichend vage, dass viele Länder wohl keine exorbitant hohen Neukosten befürchten müssen. Sie können einfach Ausgaben melden, die sie ohnehin tätigen würden oder schon tätigen, um ihre Verteidigungsfähigkeit zu erhöhen – für den Grenz-, Cyber- oder Zivilschutz zum Beispiel oder für den Ausbau militärisch wichtiger Straßen, Brücken oder Schienenwege.
Im Grunde ist Ruttes Plan daher ein Rechentrick: Trump fordert Ausgaben von fünf Prozent, die Nato-Pläne machen nur 3,5 Prozent wirklich notwendig, also werden die restlichen 1,5 Prozent auf kreative Weise zusammengesammelt. Hauptsache, Donald Trump bleibt bei Laune.
Nicht alle Nato-Regierungen sind damit zufrieden. Die sogenannten Frontstaaten im Osten Europas, die nahe an Russland liegen wie die Balten, hätten sich ehrgeizigere Ziele gewünscht. Fünf Prozent echte, harte Verteidigungsausgaben, und zwar bis 2030, nicht erst 2035, wie ein Diplomat aus dieser Region erläutert. Nur so, argumentiert er, könne die Nato das aggressive Russland effektiv abschrecken.
Länder, die weit entfernt sind von der Nato-Ostgrenze, sind dagegen entspannter. Spaniens Premier Pedro Sánchez etwa weigerte sich noch bis vor einigen Tagen, das Fünf-Prozent-Ziel zu akzeptieren. Er fürchtete um den Zusammenhalt seiner links-sozialistischen Koalition. Das Ziel sei unvernünftig, schrieb Sánchez vorige Woche in einem Brief an Rutte. Den spanischen Wohlfahrtsstaat werde er nicht wegen Trumps Forderungen opfern, Spanien müsse eine Ausnahmeklausel erhalten.
Für Spanien gibt es „keine Ausnahme“. Oder doch?
Der kompromisslose Ton des Briefs löste in diplomatischen Kreisen Kopfschütteln aus. Es schien, als müsste eine derart deutliche Ablehnung des Fünf-Prozent-Ziels unweigerlich zu einem Eklat beim Gipfel in Den Haag führen – oder zum Zusammenbruch der Regierung in Madrid, sollte Sánchez doch noch nachgeben.
Rutte bastelte das Wochenende über an einer Lösung des Problems. Ob sie hält, ist allerdings ungewiss. So wurde im Abschlussdokument der Satz umformuliert, der die Verpflichtung auf das neue Ausgabenziel enthält. Von einem klaren „wir“, also alle Mitgliedsländer, wurde das Subjekt in ein unbestimmtes „Verbündete“ verändert. Nach spanischer Lesart heißt das: Wer immer mitmachen will.
Das machte es möglich, dass einerseits Sánchez sagen konnte, Spanien sei an die Fünf-Prozent-Marke nicht gebunden. Gleichzeitig beharrt die Nato aber darauf, dass es keine formelle Sonderregelung für Madrid gebe.
Sein Land werde den Verteidigungsetat auf 2,1 Prozent des BIP anheben, verkündete Sánchez am Sonntagabend stolz, „nicht mehr und nicht weniger“. „Es gibt keine Ausnahme für Spanien“, konterte am Montag hingegen ein ranghoher Nato-Vertreter. Auch Madrid müsse die Fähigkeitsziele erfüllen, denen es zugestimmt habe. Und das, so stelle Rutte höchstpersönlich später klar, werden nach der „absoluten Überzeugung der Nato“ eben 3,5 Prozent vom BIP kosten.
Gut möglich, dass es eins der ungezählten Weltwunder der Diplomatie ist, wenn trotz derartiger Widersprüche alle Seiten am Ende zufrieden sind. Gut möglich aber auch, dass es wegen Sánchez’ Renitenz noch Streit gibt in Den Haag. Oder dass nach Spanien nun noch andere Länder ebenfalls Ausnahmen für sich reklamieren. Schließlich werden viele europäische Staaten die Fünf-Prozent-Marke nur mit großer Mühe erreichen. Und ob es der Glaubwürdigkeit der Nato guttut, wenn die neuen Ausgabenziele schon infrage gestellt werden, bevor sie beschlossen sind, sei ohnehin dahingestellt.
Im Gegenzug für die Festschreibung des Fünf-Prozent-Ziels werden sich die USA wohl auf zwei Formulierungen einlassen, die den Europäern wichtig sind. Zum einen wird in dem Abschlussdokument die gegenseitige Beistandsgarantie, die in Artikel 5 des Nato-Vertrags festgeschrieben ist, als „eisenhart“ bekräftigt – „ein Angriff auf einen ist ein Angriff auf alle“. An diesem Grundsatz hat Trump in der Vergangenheit ja immer wieder mal kräftig gerüttelt.
Zum anderen wird Russland als „Bedrohung für die euro-atlantische Sicherheit“ bezeichnet, also nicht nur für die Europäer, sondern auch für Amerika. Zusammengenommen, so die Hoffnung der europäischen Nato-Länder, senden diese Formulierungen das Signal nach Moskau, dass die Allianz ge- und entschlossen ist, sich zu verteidigen. Und vor allem, dass Trump das auch so sieht.
Das Nachsehen in dem Balanceakt hat die Ukraine
Das Nachsehen hat bei all diesem europäisch-amerikanischen Taktieren und Ausbalancieren die Ukraine. Trump will nicht, dass der Gipfel sich mit dem überfallenen Land beschäftigt. Im Gegensatz zu früheren Treffen wird daher der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij nur am Dienstagabend beim Bankett im Königspalast Gast sein und keine Sitzung mit den Staats- und Regierungschefs bekommen.
Genauso wenig taucht im Abschlussdokument des Gipfels die bei früheren Treffen verwendete Formel auf, dass die Ukraine Mitglied der Allianz werden wird und sich auf einem „unumkehrbaren Weg“ dorthin befinde. Nur die weitere Unterstützung des Landes wird in einem Halbsatz erwähnt, allerdings wurde dafür die eher unverbindliche Formulierung „Verbündete bekräftigen“ gewählt. Wer sich zu dieser Gruppe zählt, bleibt offen.
Zu mehr als einer sehr rudimentären Botschaft bezüglich Russland und der Ukraine habe Trump sich nicht bewegen lassen, sagt ein Diplomat. „Im Dokument steht jetzt: Russland schlecht, Ukraine gut. Immerhin.“