Nato-Generalsekretär:"Jede russische Gegenmaßnahme wäre ungerechtfertigt"

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Nato-Generalsekretär Stoltenberg vor einem Leopard-Panzer der polnischen Armee. (Foto: Getty Images)

Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg verteidigt im Gespräch mit der SZ die Manöver in Osteuropa. Sie seien eine "Antwort auf das russische Verhalten".

Interview von Daniel Brössler, Brüssel

Jens Stoltenberg, 57, ist seit 2014 Generalsekretär der Nato. Zuvor war er zweimaliger norwegischer Ministerpräsident. Das folgende Interview gab er der SZ und anderen europäischen Blättern. Geführt wurde es vor Bekanntwerden der Äußerungen des deutschen Außenministers Frank-Walter Steinmeier, der vor einem "Säbelrasseln und Kriegsgeheul" der Nato warnte.

SZ: Vor dem Nato-Gipfel in Warschau im Juli werden zahlreiche Übungen abgehalten. Demnächst sollen rotierend je ein Bataillon, also etwa tausend Soldaten, in Polen, Litauen, Lettland und Estland stationiert werden. Eskaliert die Nato statt zu beruhigen?

Jens Stoltenberg: Wir suchen keine Konfrontation mit Russland. Der Kalte Krieg ist Geschichte. Wir wollen, dass das so bleibt. Was wir tun, ist defensiv und verhältnismäßig. Die Anwesenheit von Nato-Bataillonen stellt eine begrenzte Militärpräsenz dar. Wir entsenden sie nicht, um einen Konflikt zu provozieren, sondern um einen Konflikt zu verhindern. Über Jahrzehnte haben wir gelernt: Solange wir geschlossen auftreten und abschrecken, verhindern wir auch Konflikte. Starke Verteidigung, starke Abschreckung und die Geschlossenheit der Nato sind der beste Weg, um einen Konflikt zu verhindern. Zugleich setzen wir auf politischen Dialog mit Russland. Das ist umso wichtiger, wenn die Spannungen groß sind. Denn wenn wir uns anschweigen, lösen wir keine Probleme.

Fürchten Sie keine russischen Gegenmaßnahmen?

Was wir im Osten tun, ist eine Antwort auf das russische Verhalten. Daran kann es keinen Zweifel geben. Niemand hat über eine derartige Präsenz im östlichen Teil der Allianz gesprochen, bevor Russland illegal die Krim annektiert und mit militärischer Gewalt die Ukraine destabilisiert hat. Wir reagieren. Und zwar begrenzt. Bataillone sind Bataillone. Was wir tun, ist maßvoll, verantwortungsbewusst und transparent. Es dient nicht dazu, eine Eskalation zu provozieren. Unsere Vorne-Präsenz, unsere Übungen - das alles ist transparent. Jede russische Gegenmaßnahme wäre ungerechtfertigt.

Werden mit den jetzigen Entscheidungen die Grenzen dessen erreicht, was im Rahmen der Nato-Russland-Grundakte von 1997 getan werden kann?

In der Nato-Russland-Grundakte ist von substanziellen Kampftruppen die Rede. Wir bleiben mit unseren Planungen weit unter jeder vernünftigen Definition substanzieller Kampftruppen.

Wird mehr getan, falls nötig?

Wir werden fortlaufend den Bedarf ermitteln - und tun, was nötig ist. Wir müssen immer in der Lage bleiben, jeden Verbündeten gegen jede Bedrohung egal aus welcher Richtung zu verteidigen. Zugleich werden wir uns weiterhin um ein konstruktiveres und kooperativeres Verhältnis zu Russland bemühen.

Wie?

Gerade in Zeiten von Spannungen ist es nützlich, sich im Nato-Russland-Rat zu treffen. Vor einigen Wochen hatten wir so ein Treffen. Wir sind mit den Russen darüber im Gespräch, ein weiteres Treffen abzuhalten. Themen sind auch Transparenz und Risikominimierung. Je mehr militärische Aktivitäten, je mehr Übungen, je mehr militärische Präsenz es gibt, desto höher ist das Risiko für Zwischenfälle und Unfälle. Wir haben den Abschuss eines russischen Flugzeuges über der Türkei vor einigen Monaten gesehen. Wir haben unsicheres Verhalten von russischen Flugzeugen über der Ostsee gesehen, wo sie sich amerikanischen Marineschiffen und Flugzeugen genähert haben. Solche Zwischenfälle sind gefährlich. Wir wollen Mechanismen und Kommunikationskanäle entwickeln, die solche Zwischenfälle verhindern. Und wenn sie passieren, müssen wir verhüten, dass sie außer Kontrolle geraten.

Wir suchen intensiv nach Wegen, eine Eskalation zu verhindern. Gleichzeitig müssen wir auf ein Russland reagieren, das seine Militärausgaben seit 2000 verdreifacht hat, das sich viel aggressiver verhält und mit militärischer Gewalt Grenzen in Europa verändert hat. Die Russen veranstalten unangekündigte Ad-hoc-Übungen, einige mit mehr als 100 000 Soldaten. Hinzu kommt die Rhetorik, die Einschüchterung der Nachbarn. Wir sehen eine Aufrüstung in Kaliningrad, auf der Krim, aber im Grunde von der Barentssee über die Ostsee bis zum Schwarzen Meer und nun auch im östlichen Mittelmeer. Die NATO ist ein Verteidigungsbündnis. Nichts zu tun, wäre verantwortungslos gewesen.

Noch haben Sie aber nicht genügend Freiwillige für die Bataillone im Osten. Wieso?

Wir haben im Februar entschieden, dass wir unsere Vorne-Präsenz im östlichen Teil der Allianz verstärken. Ich bin absolut sicher, dass wir in der Lage sein werden, alle wichtigen Entscheidungen beim Gipfel im Juli zu verkünden. Das ist eine wichtige Entscheidung. Wir mussten sicherstellen, dass sie ordentlich vorbereitet ist. Das nimmt ein paar Monate in Anspruch.

Wie sollen ein paar Tausend Soldaten die baltischen Staaten verteidigen?

Sie sind lediglich eines der Elemente einer umfassenden Antwort. Zusätzlich zur Entsendung der vier Bataillone haben wir die Größe der Nato-Eingreiftruppe NRF auf 40 000 verdreifacht. Wir haben als Teil dieser NRF eine Speerspitze in Größe einer Brigade geschaffen. Dann haben wir acht kleine Hauptquartiere im östlichen Teil der Allianz aufgebaut. Wir werden auch mehr Gerät vorsorglich vor Ort lagern. Die Bataillone sind im Zusammenhang mit diesen anderen Maßnahmen zu sehen. Sie können kleineren militärischen Aggressionen begegnen und als Brückenkopf für Verstärkung dienen. Außerdem geht es um eine multinationale Vorne-Präsenz. Ein Angriff auf einen Verbündeten wäre ein Angriff auf alle Verbündeten.

Hält sich Russland an die Grundakte?

Nein. Eine der grundlegenden Prinzipien der Grundakte ist der Respekt für die Souveränität und territoriale Integrität aller Staaten. Russland hat weder die territoriale Integrität Georgiens noch der Ukraine respektiert. Die Grundakte enthält auch gewisse Beschränkungen für die russische Militärpräsenz. Diese Präsenz ist aber substanziell verstärkt worden.

Ist auch die geplante verstärkte Zusammenarbeit mit der EU eine Reaktion auf das russische Verhalten?

Zum Teil. Wir alle verstehen, dass die verwischte Linie zwischen Krieg und Frieden, also militärische und zivile Formen der Aggression sowie offene und verdeckte Operationen eine Antwort sowohl der Nato als auch der EU erfordern. Da kann es um Infrastruktur, die Energieversorgung, Cyberangriffe oder Propaganda gehen. Keiner hat alle nötigen Instrumente dagegen im Werkzeugkasten. Deshalb müssen wir zusammenarbeiten und koordiniert reagieren.

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Von Daniel Brössler

Welche Folgen hätte ein Austritt Großbritanniens aus der EU für die Sicherheit in Europa?

Es ist an den Briten zu entscheiden, ob sie die EU verlassen oder in ihr bleiben wollen. Für die Nato kann ich sagen: Ein starkes Großbritannien in einem starken Europa ist gut für Großbritannien, aber auch gut für die Nato. Wir leben in Zeiten mit nie dagewesenen Herausforderungen sowohl aus dem Osten als auch aus dem Süden. Wir erleben Terror, Instabilität, ein aggressiveres Russland. Zusammenhalt und Stabilität ist vermutlich heute wichtiger denn je. Wir können kein zersplittertes Europa gebrauchen, das zur Instabilität und Unberechenbarkeit beiträgt. Großbritannien ist der europäische Verbündete, der am meisten für Verteidigung ausgibt. Es stärkt die Nato, wenn Großbritannien an beiden Tischen sitzt - dem der Nato und dem der EU.

Erodiert die Einigkeit nicht?

Die Nato ist eine Allianz aus 28 Demokratien. Es wird immer unterschiedliche Meinungen und offene Debatten geben. Das ist keine Schwäche, sondern eine Stärke.

Sorgen Sie sich nicht um die Demokratie in der Türkei?

Die Türkei ist das Land, das am meisten von der Instabilität im Süden betroffen ist. Es hat drei Millionen Flüchtlinge aufgenommen und leidet unter Terroranschlägen. Ich sage aber auch: Die Nato ist eine Wertegemeinschaft. Sie fußt auf Demokratie, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit. Darauf lege ich auch persönlich viel Wert. Das habe ich auch in vielen Hauptstädten betont, darunter Ankara.

Auch in Warschau, wo der Gipfel stattfindet?

In Ankara, Warschau und vielen anderen Hauptstädten.

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