Die Nato und China:"Eine systemische Herausforderung"

Die Nato und China: Chinesische Soldaten bei einer Parade auf dem Roten Platz in Moskau: Mittlerweile beteiligt sich Chinas Militär an russischen Übungen "im euroatlantischen Raum", das sieht die Nato mit Sorge.

Chinesische Soldaten bei einer Parade auf dem Roten Platz in Moskau: Mittlerweile beteiligt sich Chinas Militär an russischen Übungen "im euroatlantischen Raum", das sieht die Nato mit Sorge.

(Foto: Pavel Golovkin/AFP)

Das Militärbündnis will Pekings Machthunger entgegentreten. Doch wie, darüber gibt es unterschiedliche Meinungen. So lesen sich dann auch die Sätze in der Gipfelerklärung.

Von Matthias Kolb, Brüssel

Der 4. Dezember 2019 war ein historischer Tag für die Nato. 70 Jahre nach ihrer Gründung wurde China erstmals in einem offiziellen Dokument des Verteidigungsbündnisses erwähnt. In London genügte den Staats- und Regierungschefs in ihrer Abschlusserklärung ein Satz: "Wir erkennen an, dass Chinas wachsender Einfluss und seine internationale Politik sowohl Chancen als auch Herausforderungen bergen, die wir gemeinsam als Bündnis angehen müssen." Damit war auch Donald Trump zufrieden. Er wollte das aufstrebende China zwar in die Schranken weisen, aber bevorzugt allein.

Unter Präsident Joe Biden versuchen die USA nun, mit den Partnern Strategien gegenüber Peking zu koordinieren. Die Nato ist da keine Ausnahme und Washingtons Druck immens. Vor Bidens erstem Gipfel waren nur wenige Teile der 41-seitigen Erklärung umstrittener als die Absätze 55 und 56, die die Volksrepublik betreffen. Insider berichten, dass sich die Mitglieder in der Analyse der wirtschaftlichen, politischen und militärischen Aspekte von Chinas Aufstieg einig seien. Strittig war aber, wie hart die öffentliche Position sein solle. Also wird Peking ein "konstruktiver Dialog" angeboten, aber ansonsten wenig beschönigt.

Schon heute verfügt China über die weltweit größte Marine

"Chinas formulierte Ambitionen und sein selbstbewusstes Verhalten stellen eine systemische Herausforderung dar für die regelbasierte internationale Ordnung und Bereiche, die relevant sind für die Sicherheit der Allianz", heißt es im Absatz 55. Die Mitglieder sind besorgt über Chinas "auf Zwang beruhende politische Maßnahmen", die dem Washingtoner Vertrag von 1949 widersprechen würden. Aus diesem leitet die Nato ihr Selbstverständnis ab, für Demokratie und Freiheit einzutreten. Seit Monaten betont Generalsekretär Jens Stoltenberg, dass China kein Gegner sei. "Wir wollen keinen neuen Kalten Krieg", sagt auch Boris Johnson. In der Nato gilt Großbritannien jedoch als China-Hardliner.

Die Erklärung der Staats- und Regierungschefs beschreibt zutreffend Chinas Ehrgeiz: Es baut sein Nukleararsenal schnell aus, investiert in Sprengköpfe und Trägersysteme und modernisiert seit Jahren sein Militär; schon heute verfügt es über die weltweit größte Marine. Mit Sorge sieht man die Kooperation mit Russland, das als größte Bedrohung für die Nato gilt. Mittlerweile beteiligt sich Chinas Militär an russischen Übungen "im euroatlantischen Raum". Und Pekings Fähigkeiten im Cyberspace und im Weltraum lassen sich überall einsetzen. Wie die EU fordert die Nato von Peking, seine Desinformationskampagnen zu beenden und internationale Verpflichtungen einzuhalten.

Formulierungen, wonach "gegenseitige Transparenz und gegenseitiges Verständnis" beiden Seiten nützten, sind wichtig für Länder wie Deutschland oder Luxemburg, die enge Handelspartner Pekings sind und China als Partner beim Klimaschutz sehen. Die Erklärung dient als Basis für das neue "strategische Konzept", das 2022 fertig sein soll. Hier soll nach Ansicht von Bundeskanzlerin Angela Merkel ausgearbeitet werden, wie ein "konstruktiver Dialog" aussehen könnte. Die China-Debatte in der Nato hat erst begonnen, an deren Ende stehen könnte, dass die Europäer mehr Verantwortung für die Verteidigung ihres Kontinents übernehmen müssen, wenn die USA sich stärker auf Asien konzentrieren. Vorerst fand man nun eine klassische Nato-Sprache. Die Sätze sind hinreichend zweideutig, sodass sie jedes Mitglied in seinem Sinne interpretieren kann.

Polen und die baltischen Staaten sehen die Hinwendung zu China kritisch

Anders als bei den G 7 tauchen keine Vorwürfe wegen Menschenrechtsverletzungen auf, die Nato stellt sich schlicht der Realität. Die beschreiben Fachleute wie Claudia Major von der Stiftung Wissenschaft und Politik so: "Es geht nicht um ,Die Nato bricht nach China auf'. China ist schon bei uns und wir müssen darauf reagieren." Zur Debatte steht also keine Ausweitung des Operationsgebiets, auch wenn Großbritannien, Frankreich und bald auch Deutschland Kriegsschiffe in den Indopazifik schicken. Peking ist laut Stoltenberg zudem auf dem Westbalkan ebenso aktiv wie in der Arktis und breite seinen Einfluss auch in Afrika aus. Mit der "Nato 2030"-Reform wollen die Mitglieder ihre kritischen Infrastrukturen stärken. Dies betrifft Unterseekabel ebenso wie Häfen oder Telekommunikationsnetze - und in diese haben gerade in Europa chinesische Firmen wie Cosco oder Huawei stark investiert.

Als erfahrener Politiker weiß Biden, welche Nato-Mitglieder den Fokus auf China besonders kritisch sehen, weil dies womöglich von der Bedrohung durch Moskau ablenke. Es sind neben Polen und Rumänien vor allem die baltischen Staaten. Estlands Ministerpräsidentin Kaia Kallas sagte bei ihrer Ankunft, dass vor 80 Jahren Tausende Esten von der damaligen Sowjetunion nach Sibirien deportiert worden seien. Also nahm sich der US-Präsident noch vor der Arbeitssitzung Zeit für Estland, Lettland und Litauen. Bidens Botschaft war auch an Moskau gerichtet: Die USA werden weiter die Sicherheit der Ostsee-Region garantieren.

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