Süddeutsche Zeitung

Ukraine:Selenskij: "Was ist noch nötig?"

Der ukrainische Präsident klagt, dass der Nato-Beitritt seines Landes in weite Ferne gerückt sei. Und die westlichen Mitglieder widersprechen dem Eindruck nicht.

Von Daniel Brössler, Madrid

Es dürften ziemlich genau die Worte sein, die Wolodimir Selenskij vom Nato-Gipfel in Madrid hören will. "Die beste Politik der Nato über die Jahrzehnte ist die Politik der offenen Tür gewesen. Sie sollte nicht geändert werden", sagt der Präsident. Dies sei "speziell für die Ukraine" zu betonen, denn es müsse "das souveräne Recht jeder Nation sein, die Außenpolitik und Sicherheitsarchitektur zu wählen, an der sie teilhaben will". So ermutigend sie sein mögen, haben die Sätze einen Haken. Sie stammen von Stevo Pendarovski, dem Staatsoberhaupt von Nordmazedonien. Es ist das jüngste Nato-Mitglied. Mit zwei Millionen Einwohnern gehört es überdies zu den kleinsten. Niemand aus der Gewichtsklasse von Joe Biden, Emmanuel Macron oder Olaf Scholz sagt in Madrid auch nur Annäherndes. Selbst Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg spricht nur sehr allgemein davon, dass die Allianz mit den Einladungen an Finnland und Schweden demonstriere, dass die "Tür der Nato offen bleibt".

Zwar preist Stoltenberg zur Begrüßung des zugeschalteten ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenskij "die Tapferkeit der ukrainischen Bevölkerung und Streitkräfte", und natürlich verspricht er: "Die Nato-Verbündeten werden weiterhin an der Seite der Ukraine stehen." Von einer Zukunft der Ukraine in der Nato aber ist - von den Worten des Nordmazedoniers einmal abgesehen - kaum die Rede. Niemanden kann das weniger überraschen als Selenskij. Schon kurz vor Beginn des Krieges hatte Kanzler Scholz ihn bei einem Besuch ermuntert, wenn nicht bedrängt, von den Nato-Plänen - seit 2019 in der Ukraine immerhin ein Verfassungsziel - Abschied zu nehmen. Die offene Tür der Nato sei vielleicht nur "ein Traum", sagte Selenskij in einer gemeinsamen Pressekonferenz.

Man könne doch keinen Krieg beginnen wegen einer Sache, "die gar nicht auf der Tagesordnung steht" und die kein heute aktiver Politiker mehr erleben werde, hatte Scholz danach im Kreml auf Präsident Wladimir Putin eingeredet. Mittlerweile hegen Scholz und die anderen im Nato-Kreis keinen Zweifel mehr daran, dass der Überfall auf die Ukraine zu diesem Zeitpunkt schon lange beschlossene Sache war. Verfestigt hat sich mit jedem Kriegstag, zumindest in den westlichen Nato-Staaten, die Überzeugung, dass eine Aufnahme der Ukraine für lange Zeit nicht realistisch sein wird.

Selenskij ist das klar. "Ist es ein Zufall", fragt er die Staats- und Regierungschefs der Nato in seiner Ansprache, "dass alle Alliierten im Osten, alle unsere Nachbarn, für eine ukrainische Nato-Mitgliedschaft eintreten?" Die Antwort gibt er selbst: "Nein, das ist kein Zufall. Das ist logisch. Das heißt, das Leben in unserer Region zu verstehen." Dann wählt Selenskij das Bild alter Drehkreuze in der Kiewer Metro, die sich schließen, wenn ein Fahrgast sich nähert, und erst nach Geldeinwurf wieder öffnen. "Hat die Ukraine nicht genug gezahlt", fragt er, "ist unser Beitrag zur Verteidigung Europas und der ganzen Zivilisation immer noch nicht ausreichend? Was ist noch nötig?".

Es ist eine Frage, auf die Selenskij aus Madrid keine Antwort bekommt. Zwar wird im neuen strategischen Konzept ein Beschluss vom Nato-Gipfel 2008 in Bukarest bekräftigt, wonach die Ukraine und Georgien Nato-Mitglieder werden. Schon damals war das aber, nicht zuletzt auf Betreiben von Kanzlerin Angela Merkel, ohne jede praktische Wirkung und realistische Beitrittsperspektive beschlossen worden. Streng genommen bekräftigt die Nato eine Zusage ohne Wert. Selenskij weiß das. "Wir benötigen Sicherheitsgarantien. Sie müssen einen Platz für die Ukraine im gemeinsamen Sicherheitsraum finden", fordert er. Den Platz, ist da herauszuhören, sieht selbst Selenskij nicht mehr wirklich in der Nato. Worum es nun geht, sind die Sicherheitsgarantien.

Beim G-7-Gipfel war von Sicherheitszusagen die Rede. Was bedeutet das?

Von der Nato werden sie nicht kommen können, denn die erteilt das Bündnis nur eigenen Mitgliedern. Folglich müssten solche Garantien von einzelnen Staaten kommen, vor allem aus dem Kreis der G 7, die sich beim Gipfel in Elmau bereit erklärt hatten, sich für die Zeit nach dem Krieg "gemeinsam mit interessierten Ländern und Institutionen und der Ukraine auf langfristige Sicherheitszusagen zu verständigen, um der Ukraine dabei zu helfen, sich selbst zu verteidigen, ihre freie und demokratische Zukunft zu sichern und künftige russische Angriffshandlungen durch Abschreckung zu verhindern".

Was das konkret bedeutet, bleibt aber bisher im Nebel. Und dort soll es offenbar vorerst bleiben, wie Olaf Scholz in Elmau durch sein schmallippiges "Ja" auf die Frage einer Journalistin zu verstehen gegeben hat, ob er die Sicherheitsgarantien konkretisieren könne. So ein "Ja" kann viel bedeuten, zum Beispiel, dass es tatsächlich schon handfeste Pläne gibt, die geheim bleiben sollen. Allerdings ist es sehr unwahrscheinlich, dass sich die infrage kommenden Länder tatsächlich schon so detailliert verständigt haben. Auffällig ist zudem, dass in der Erklärung der G 7 gar nicht von Garantien die Rede ist, sondern von Zusagen. Das könnten anhaltende Waffenlieferungen und sonstige Hilfen sein oder auch ein Automatismus, ausgesetzte Sanktionen gegen Russland im Falle einer Aggression wieder in Kraft zu setzen.

Ohnehin kann in Madrid keiner ein Ende des Krieges absehen. Man werde die Hilfe mit Geld und Waffen, verspricht Kanzler Scholz, "so lange und auch so intensiv fortsetzen, wie es notwendig ist, damit sich die Ukraine verteidigen kann".

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