Süddeutsche Zeitung

Afghanistan:"Alle Verbündeten sind sich des Dilemmas bewusst"

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Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg spricht über die Risiken, die Rettungsmission aus Kabul zu verlängern. Die Allianz müsse Fehler analysieren, ihren Zusammenhalt sieht er aber nicht gefährdet.

Von Paul-Anton Krüger, Berlin

Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg hat angesichts der chaotischen Szenen am Flughafen von Kabul zum Ende der westlichen Militärintervention in Afghanistan Fehler eingestanden. Zugleich verteidigte er die Operation nach den Anschlägen des 11. September vor 20 Jahren. Die Nato habe damals die Beistandsklausel nach Artikel fünf des Nordatlantikpaktes aktiviert, um "die USA zu schützen, nicht Afghanistan", sagte er in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung und weiteren führenden europäischen Medien.

Der Allianz sei es "gelungen, für 20 Jahre zu verhindern, dass Afghanistan ein sicheres Rückzugsgebiet für Terroristen ist und von dort Anschläge gegen Nato-Staaten geplant oder verübt wurden". Das Terrornetzwerk al-Qaida sei geschwächt worden. Das sei ein "beachtlicher Erfolg", den es zu erhalten gelte. Man werde die Taliban zur Verantwortung ziehen, falls sie ihre Zusagen nicht einhielten zu verhindern, dass wieder internationale Terrorgruppen von Afghanistan aus Anschläge gegen Verbündete planten oder ausführten.

Die jüngsten Differenzen zwischen den USA und den wichtigsten europäischen Bündnispartnern Frankreich, Großbritannien und Deutschland über die Evakuierungsmission und ihren zeitlichen Rahmen stellten nicht die Glaubwürdigkeit der Beistandsverpflichtung infrage, sagte er. Die Frage der Frist sei unter den Verbündeten diskutiert worden. "Alle sehen die Notwendigkeit, so viel Zeit wie möglich zu haben, um so viele Menschen wie möglich auszufliegen." Das gelte vor allem auch für jene Afghanen, die den Streitkräften der Nato geholfen hätten.

Je länger man aber in Kabul bleibe, desto "größer wird das Risiko einer Terrorattacke". Diese Gefahr sei "nicht theoretisch, sondern sehr real", etwa durch den afghanischen Ableger der Terrormiliz Islamischer Staat (IS). "Alle Verbündeten sind sich dieses Dilemmas bewusst." Ohne "zumindest eine stillschweigende Zustimmung durch die Taliban" für eine Verlängerung der Mission sei die Situation am Flughafen extrem gefährlich. "Ich bin viele Male dort gewesen", sagte Stoltenberg, der seit sieben Jahren an der Spitze der Allianz steht - "er ist von Hügeln umgeben" und damit verwundbar. "Die sicherste Alternative ist deswegen, so viele Menschen wie möglich so schnell wie möglich auszufliegen."

"Selbst wenn wir die Frist verlängern, müssen wir sie hereinholen können"

Die größte Herausforderung sei inzwischen, die auszufliegenden Menschen überhaupt auf das Flughafenareal zu bringen. "Selbst wenn wir die Frist verlängern, müssen wir sie hereinholen können, aber das Gebiete um den Flughafen ist unter Kontrolle der Taliban, deren Checkpoints sie passieren müssen." Man werde aber darauf dringen, dass nach Ende der militärischen Evakuierungsmission weiter Menschen Afghanistan mit kommerziellen Flügen oder auf dem Landweg verlassen können.

Es sei "im Interesse aller Seiten und auch jeder afghanischen Regierung, einen funktionierenden und sicheren Flughafen für zivilen Verkehr und Hilfsflüge zu haben". Wie dies technisch möglich sein soll und in welchem Zeitrahmen, ließ Stoltenberg unbeantwortet. Nach Angaben aus deutschen Sicherheitskreisen ist ein ziviler Betrieb auf absehbare Zeit nicht möglich, weil das US-Militär nicht nur das Gelände sichert, sondern auch den Flugbetrieb mit eigener Ausrüstung abwickelt.

Stoltenberg, der noch in seiner früheren Funktion als Ministerpräsident Norwegens im Jahr 2001 die Entsendung von Soldaten beschlossen hatte, räumte ein, dass es "schmerzvoll ist, die Entwicklung in Afghanistan zu sehen und die Tragödie für das afghanische Volk". Es breche ihm das Herz, das Leiden der Menschen zu sehen und die Erfolge der Mission gefährdet zu wissen, etwa den Zugang zu Bildung für Frauen. Afghanistan habe sich in den vergangenen 20 Jahren grundlegend verändert, und das sei auch nicht mehr ohne weiteres umzukehren.

Nato müsse eigene Rolle "offen und ehrlich" analysieren

Die Nato müsse aber Lehren aus dem Einsatz ziehen. "Es ist wichtig für jede demokratische Institution, Fehler und die eigene Rolle offen und ehrlich zu analysieren." Die Entscheidung, militärische Gewalt anzuwenden, sei sehr ernst und schwierig und führe nicht zwangsläufig zu den gewünschten Ergebnissen. Zugleich aber sei die internationale Gemeinschaft vielfach kritisiert worden, weil sie etwa die Massaker in Ruanda oder in Srebrenica nicht verhindert habe.

Die Nato müsse weiter fähig und bereit sein, militärische Mittel anzuwenden. Anders hätte sie der Terrormiliz Islamischer Staat in Irak und Syrien nicht Einhalt gebieten können. "Ich glaube immer noch, dass es richtig war, vor 20 Jahren nach Afghanistan zu gehen", bekräftigte der Nato-Generalsekretär. Es habe damals breite politische Unterstützung dafür gegeben, nicht nur bei allen Verbündeten sondern auch "quer durch das politische Spektrum".

Stoltenberg bekräftigte Kritik an der politischen und militärischen Führung Afghanistans. "Es ist gerecht zu sagen, dass wir nach 20 Jahren großer Investitionen in den Aufbau der afghanischen Sicherheitskräfte durch Training, Ausrüstung und finanzieller Unterstützung Gründe hatten mehr zu erwarten, als dass sie binnen Tagen zusammenbrechen."

Seiner Ansicht nach sei das Problem mangelnde Führung. Er habe "afghanische Soldaten getroffen, die mutig, entschlossen und professionell ihr Land gegen die Taliban verteidigt haben"; sie treffe keine Schuld. Etliche von ihnen seien aber nicht bezahlt und versorgt worden, nicht einmal mit Munition. Korruption in den Reihen der Regierung und hochrangiger Offiziere gilt auch unabhängigen Experten als ein Grund für den Kollaps der Armee.

Was immer aber in Afghanistan geschehe, es sei "extrem wichtig, dass die Nato weiterhin ein starkes Bündnis bleibt". Die Verbündeten aus Nordamerika und Europa müssten zusammenstehen, das sei auch die klare und einhellige Botschaft des Außenministertreffens vergangene Woche und seiner Gespräche mit den Staats- und Regierungschefs der Bündnispartner gewesen. Die Nato sehe sich einer Verschiebung der globalen Kräfteverhältnisse gegenüber, einem aggressiveren Russland und einem aufstrebenden China. "Solange Nordamerika und Europa zusammenstehen, können wir diese Herausforderungen meistern", sagte Stoltenberg.

Das sei für Europa genauso wichtig, wie für die USA. Diese würden immer stärker den Wert der Verbündeten anerkennen. Für Europa indes sei klar, dass die Europäische Union den Kontinent nicht verteidigen könne. Dazu reichten die Ressourcen nicht, zudem seien für die Sicherheit wichtige Nato-Länder wie die Türkei oder nach dem Brexit auch Großbritannien nicht in der EU. "Ohne die transatlantische Bindung würde Europa geschwächt", warnte er, zeigte sich aber zugleich überzeugt, dass "wir trotz der Herausforderungen in Afghanistan weiter zusammenstehen werden".

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