Nationalsozialismus:So verfolgt Ludwigsburg noch lebende SS-Veteranen

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Das Eingangstor zum KZ Auschwitz nach der Befreiung durch sowjetische Truppen im April 1945. (Foto: AFP)

SS-Mann Gröning war nicht der Letzte: Dank der Zentralen Stelle stehen 2016 wohl vier Verdächtige vor Gericht. Besonders gespannt sind die Mitarbeiter auf eine Entscheidung des BGH.

Von Martin Anetzberger und Oliver Das Gupta

Der 12. Mai 2011 markierte eine bemerkenswerte Wende in der deutschen Rechtsprechung. Zum ersten Mal wurde ein mutmaßlicher NS-Verbrecher ohne konkreten Tatnachweis verurteilt - schuldig der Beihilfe zum Mord in 28 060 Fällen. Der Angeklagte hieß John Demjanjuk, das Strafmaß, dass das Landgericht München verhängte, lautete: fünf Jahre Haft.

Für die Angehörigen der Opfer und KZ-Überlebende war es ein guter Tag. Vor allem aber auch für eine Behörde mit dem etwas sperrigen Namen "Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen" in Ludwigsburg. Diese hatte unter ihrem langjährigen Leiter Kurt Schrimm die Rechtsauffassung entwickelt, wonach es für eine Verurteilung ausreicht, dass ein angeklagtes SS-Mitglied oder ein SS-Helfer zum Tatzeitpunkt in einem Vernichtungslager anwesend war und um das Geschehen wusste. Schrimm umschrieb das als "Beitrag zum Funktionieren der Tötungsmaschinerie".

Diesen hatte nach Überzeugung des Münchner Gerichts auch Demjanjuk geleistet, als er von Ende März bis Mitte September 1943 als ukrainischer "Hilfswilliger" der SS im Vernichtungslager Sobibor diente. In diesem Zeitraum ermordeten die Nazis dort Deportationslisten zufolge mehr als 28 000 Menschen. Rechtskräftig wurde das Urteil jedoch nicht. Denn Demjanjuk starb, ehe der Bundesgerichtshof über die von Verteidigung und Anklage beantragte Revision entscheiden konnte.

Seither hofft man in Ludwigsburg auf eine höchstrichterliche Bestätigung aus Karlsruhe. Schrimm ist mittlerweile nicht mehr Behördenleiter, in diesem Jahr folgte ihm Jens Rommel nach, doch das Ziel bleibt das gleiche: ein rechtskräftiges Urteil gegen einen SS-Wachmann auf Grundlage eben jener Ludwigsburger Rechtsauffassung.

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Grund zu neuem Optimismus gibt es seit 15. Juli 2015. An diesem Tag befand das Landgericht Lüneburg den heute 94-jährigen ehemaligen Auschwitz-Wachmann Oskar Gröning schuldig der Beihilfe zum Mord in 300 000 Fällen und verhängte eine vierjährige Freiheitsstrafe. Zur Begründung hieß es, Gröning habe sich aus freiem Willen für die SS entschieden. Alle in Auschwitz hätten gewusst: "Dies war etwas Verbotenes, Unmenschliches, beinahe Unerträgliches", sagte der Vorsitzende Richter Franz Kompisch.

Gröning wurde unter der Bezeichnung "Buchhalter von Auschwitz" bekannt. Zwischen September 1942 und Oktober 1944 war der Waffen-SS-Mann in Auschwitz eingesetzt. Er war für die Verwaltung des Geldes der Häftlinge verantwortlich und führte dieses in gewissen Abständen nach Berlin ab. Außerdem leistete er Dienst an der Rampe, wo die deportierten Menschen ankamen, und passte auf ihr Gepäck auf.

Im Vergleich zu den meisten NS-Tätern sagte Gröning im Prozess umfassend aus, nannte sich selbst nur ein "Rad im Getriebe", räumte aber auch eine "moralische Mitschuld" ein. Ober der gesundheitlich schwer angeschlagene Mann in Haft muss, entscheidet die Staatsanwaltschaft, wenn das Urteil rechtskräftig ist. Auch in diesem Fall steht eine Revisionsentscheidung des BGH bisher allerdings aus, könnte aber im neuen Jahr fallen.

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Oberstaatsanwalt Rommel hofft, dass die Revision verworfen und das Urteil damit rechtskräftig wird. "Wir würden uns gerne an der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs orientieren", sagt er zur SZ. Dazu müsse der BGH sich allerdings erst "zu den Voraussetzungen äußern, wann sich jemand, der lediglich in einem KZ tätig war, wegen Beihilfe zum Mord schuldig gemacht hat", so Rommel. Karlsruhe könne den Strafverfolgungsbehörden "Richtlinien an die Hand geben". Anhand dieser wäre es dann möglich, sagt Rommel, darüber zu entscheiden, in welchen anderen Fällen eine Anklageerhebung noch erfolgversprechend sei. Was aber, falls der BGH die Ludwigsburger Rechtsauffassung verwirft und wie bisher auf dem Nachweis einer konkreten Beteiligung an den Morden beharrt?

Ein Szenario für diesen Fall habe er nicht parat, sagt Rommel. "Dann müsste man unter diesem Maßstab, den der BGH dann vorgibt, überlegen, was noch möglich wäre." Das "würde natürlich Schwierigkeiten bedeuten", sagt er.

Wie die Karlsruher Richter am Ende entscheiden, kann niemand vorhersagen. Und so arbeiten sie in Ludwigsburg beharrlich weiter. Schon im kommenden Jahr sollen weitere mutmaßliche NS-Verbrecher vor Gericht gestellt werden, gegen die Ludwigsburg die Vorermittlungen leitete:

Reinhold H.

Das Landgericht Detmold ließ am 7. Dezember die Anklage gegen den ehemaligen SS-Mann Reinhold H. aus Lippe zu. Die Verhandlung werde voraussichtlich im Februar 2016 beginnen - der Vorwurf: Beihilfe zum Mord in mindestens 170 000 Fällen im KZ Auschwitz. Die Fälle stehen laut Staatsanwaltschaft Dortmund in Zusammenhang mit der Ankunft von jüdischen Deportationsopfern aus Ungarn, mit Massenerschießungen sowie der Selektion kranker und schwacher Gefangener zwischen Januar 1943 und Juni 1944. H. habe die Tötungen fördern oder zumindest erleichtern wollen. Der heute 93-Jährige hat laut Staatsanwaltschaft zugegeben, in Auschwitz gewesen zu sein. Eine Beteiligung an den Morden hat er aber bislang bestritten. Ein ärztliches Gutachten bestätigt, dass der Greis für zwei Stunden pro Prozesstag verhandlungsfähig ist.

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Hubert Z.

Die Staatsanwaltschaft Schwerin wirft dem 95 Jahre alten Hubert Z. Beihilfe zum Mord in wenigstens 3681 Fällen vor. So viele Menschen sollen in Auschwitz-Birkenau mindestens ermordet worden sein, als Z. dort im Spätsommer 1944 demnach zum SS-Personal gehörte. Der 1920 in Pommern geborene Bauernsohn diente als Sanitäter im Rang eines Unterscharführers. Eine direkte Beteiligung an Morden ist ihm nicht nachzuweisen. Er behauptet, er hätte nichts vom Leid der Häftlinge mitbekommen. Zwischenzeitlich hatte das Landgericht Neubrandenburg ihn aus gesundheitlichen Gründen für nicht verhandlungsfähig erklärt. Diese Entscheidung kippte vor kurzem das Oberlandesgericht Rostock und machte damit den Weg frei für den Prozess.

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Ernst T.

Am 10. Dezember bestätigte das Landgericht Hanau die Verhandlungsfähigkeit des 92-jährigen Ernst T. Er könne mit Pausen mehrere Stunden pro Tag am Geschehen teilnehmen. Damit wird ein Prozess immer wahrscheinlicher. T. soll als 19-Jähriger im KZ Auschwitz als Wachmann gearbeitet und sich so der Beihilfe zum Mord schuldig gemacht haben. Der Mann hat sich demnach 1942 in Ungarn freiwillig bei der SS gemeldet und in Auschwitz als Mitglied des Totenkopfsturmbanners Dienst geleistet. Die Anklage geht davon aus, dass er am Weitertransport von Deportierten aus Berlin, Frankreich und den Niederlanden beteiligt war. Mehr als 1000 dieser Häftlinge sollen gleich nach ihrer Ankunft im KZ ermordet worden sein. Weil er zur Tatzeit Heranwachsender war, soll das Verfahren vor einer Jugendstrafkammer stattfinden. Voraussichtlich im Januar wird sie dem Gericht zufolge eine Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens treffen, im April könne der Prozess beginnen.

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Die Staatsanwaltschaft Schleswig-Holstein hat im September eine mittlerweile 91-jährige ehemalige SS-Helferin angeklagt, die sich zwischen April und Juli 1944 der Beihilfe zur Ermordung in 260 000 Fällen schuldig gemacht haben soll. In dem fraglichen Zeitraum war sie Funkerin der Kommandantur des KZ Auschwitz. Damals wurden viele ungarische Juden in das Lager nahe Krakau verschleppt und gleich vergast. Über Helma K. ist nicht viel bekannt. Sie lebt in Schleswig-Holstein und soll vor der Jugendkammer des Landgerichts Kiel angeklagt werden, weil sie zur Tatzeit noch heranwachsend gewesen sei, sagte Oberstaatsanwalt Heinz Döllel. Ob das Hauptverfahren eröffnet wird, soll sich im kommenden Jahr entscheiden.

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Neben diesen Fällen gibt es noch drei weitere, die ebenfalls das KZ Auschwitz betreffen. Diese sind laut Jens Rommel an die zuständigen Staatsanwaltschaften übergeben worden. Hier stehen die Entscheidungen über eine Anklageerhebung allerdings noch aus. Damit ist eine Liste mit 50 Auschwitz-Verdächtigen, die Ludwigsburg nach dem Demjanjuk-Urteil erstellt hatte, abgearbeitet. Die anderen Fälle mussten aufgegeben werden, weil die Verdächtigen entweder schon einmal verurteilt worden waren, bereits verstorben oder nicht mehr verhandlungsfähig sind. Von 28 Fällen aus dem KZ Majdanek sind demnach noch drei übrig, auch diese liegen bei den zuständigen Anklagebehörden. Zudem liefen Ermittlungen zu den KZ Bergen-Belsen und Neuengamme, sagt Rommel.

Die Behörde in Ludwigsburg versuchte auch, über Akten aus der ehemaligen Sowjetunion Täter zu ermitteln. Hierbei handelte es sich vor allem um Urteile gegen Soldaten, die Kriegsverbrechen begangen, sich zum Beispiel am Abbrennen eines Dorfes beteiligt hatten. Um die Verurteilten selbst kümmerte sich Ludwigsburg nicht mehr, da diese bereits bestraft worden waren. Man verfolgte nun den Ansatz, weitere Beteiligte zu identifizieren. Oft standen den Ermittlern allerdings nur die relativ kurz gefassten Urteile zur Verfügung, und keine vollständigen Ermittlungsakten. Deswegen ist Rommel bei jenen insgesamt zehn Fällen, die Ludwigsburg abgegeben hat, eher skeptisch. Hier würden die Beweismittel für eine Anklage möglicherweise nicht ausreichen.

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Auch Ermittlungen gegen ehemalige Mitglieder der sogenannten Einsatzgruppen würden geprüft, gestalten sich Rommel zufolge aber als schwierig. Sie ermordeten vor allem in der ehemaligen Sowjetunion teils in Zusammenarbeit mit der Wehrmacht Tausende Juden, Roma, Kommunisten, vermeintliche Partisanen, psychisch kranke sowie geistig und körperlich behinderte Menschen. Mitglieder dieser Mordkommandos waren eher überdurchschnittlich alt. "Da lebt oft keiner mehr", sagt Oberstaatsanwalt Rommel.

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