Süddeutsche Zeitung

Ein Bild und seine Geschichte:Hitlers Gangsterstück in der Reichskanzlei

  • Am 15. März 1939 zwang Adolf Hitler den tschechoslowakischen Präsidenten Hácha bei einem Treffen in Berlin, der Unterwerfung seines Landes zuzustimmen.
  • Die Nazis machten aus dem Land eine Kolonie und errichteten ein Terror-Regime, die Slowakei spaltete sich unter einer deutschfreundlichen Regierung ab.
  • Die Annektion zog eine Garantieerklärung Frankreichs und Großbritanniens für Nachbarländer nach sich - und somit den Zweiten Weltkrieg, als die deutsche Wehrmacht im September 1939 Polen überfiel.

Von Oliver Das Gupta, Wien

Ein Bild und seine Geschichte

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Winston Churchill qualmt gerade Zigarre im Rauchersalon des britischen Unterhauses, als ihn die Nachricht erreicht: Deutsche Truppen marschieren in Prag ein! Militärischen Widerstand gibt es nicht, die Slowaken spalten sich unter einem deutschhörigen Regime ab, der Rest des Landes endet als Kolonie des Nazi-Reichs, fortan genannt "Protektorat Böhmen und Mähren".

Churchill fühlt sich an diesem 15. März 1939 überrumpelt. Zwar hatte der Abgeordnete seit Langem vor den expansiven Ambitionen Adolf Hitlers gewarnt und einen harten Kurs Londons von Premierminister Neville Chamberlain gegen Berlin gefordert. Fast auf den Tag genau ein Jahr zuvor hatte der Österreicher Hitler den "Anschluss" seiner Heimat zelebriert, ebenfalls handstreichartig. Aber der Einmarsch in Prag verblüfft auch Churchill, diese "plötzliche Gewaltsamkeit dieses Angriffs".

Tatsächlich vollziehen sich die Entwicklungen rasant, innerhalb weniger Stunden verschwindet die Tschechoslowakei als Staat. Militärisch ausgeliefert wurde die damals einzige echte Demokratie Osteuropas schon ein halbes Jahr zuvor, ausgerechnet von den demokratischen Mächten Frankreich und Großbritannien. Auf der "Münchner Konferenz" im Herbst 1938 hatten Chamberlain und der französische Regierungschef Édouard Daladier die Abtretung des tschechischen Sudentenlandes an Deutschland abgesegnet - und das, ohne Prag miteinzubeziehen. So wurden die tschechoslowakischen Verteidigungsanlagen wirkungslos, weil sie nun teilweise auf deutschem Terrain langen. Die Appeasement-Politik der Westmächte bedeutete nicht nur Verrat an den Tschechen. Sie war auch ein politischer Rohrkrepierer.

Denn Hitler lässt sich nicht beschwichtigen mit Randgebieten, er will die "Rest-Tschechei". Er hat es auf Škoda-Werke und weitere Fabriken abgesehen, die Waffen für seinen kommenden Krieg produzieren sollten, sowie auf die tschechischen Bergwerke. Dazu kommen geopolitsche Überlegungen: Die Verkürzung einer möglichen Frontlinie, die Verbindungen zu südosteuropäischen Märkten, bessere militärische Einfallsmöglichkeiten nach Polen.

Hácha versucht, sein Land zu retten

Berlin plant die Invasion in Prag von langer Hand, auch wenn sie für Churchill und den Rest der Welt überraschend kommt. Der deutsche Außenstaatssekretär Ernst von Weizsäcker notiert Mitte Februar 1939 präzise, dass "in ca. 4 Wochen die Rest-Tschechei den Todesstoß erhalten soll". Und Propagandaminister Joseph Goebbels schreibt kurz vor der Invasion: "Der Führer juchzt vor Freude."

Nach außen hin aber operieren die Nazis mit ihrem bewährten Mittel der Lüge. Wochenlang beklagt sich die gelenkte Presse im Reich über angebliche Übergriffe auf deutschsprachige Menschen in Tschechien. Das NS-Regime forciert den Druck auf die autonome Slowakei, sich von Prag abzuspalten, was am 14. März passiert.

Am selben Tag startet der tschechoslowakische Staatspräsident Emil Hácha eine Initiative, die sein Land retten soll. Gemeinsam mit seinem Außenminister bittet er Hitler um ein Treffen - der willigt ein. So steigt steigt Hácha am Anhalter Bahnhof mit seinem Außenminister aus dem Zug und zieht zur Begrüßung den Zylinder vom Kopf. Im Schneegestöber schreitet er eine Ehrenformation ab - es ist der Beginn einer beispiellosen Erpressung.

Hácha wartet im Hotel Adlon, stundenlang. Hitler lässt ihn schmoren, die Nervosität der Gäste soll steigen, der Diktator schaut sich lieber einen Film an. Nach Mitternacht werden die Tschechen dann zur eben erst fertiggestellten neuen Reichskanzlei gefahren. Hácha schreitet eine Ehrenformation der SS-Leibstandarte ab. Dann muss er viele Schritte durch den Bau laufen, in dem die pompöse Architektur auf die Einschüchterung von Gästen ausgelegt ist. Hitler empfängt die beiden Tschechen in seinem "Arbeitszimmer", das einer Halle gleicht, mit dabei ist eine ganze Horde von NS-Bonzen wie Hermann Göring.

Man lässt sich in einer Sitzgruppe in einer Ecke des spärlich mit Stehlampen beleuchteten Raumes nieder. Dann beginnt Hitler einen Monolog, der durchtränkt ist von Unwahrheiten, Hass und Verachtung. "Hitler konnte über die Tschechen gar nicht ruhig sprechen", schreibt sein Chefdolmetscher Paul Schmidt über diese Nacht.

Göring droht mit Bombardierung Prags

Laut und aggressiv hält er den Besuchern angebliche tschechische Verfehlungen vor, Feindseligkeiten gegenüber Deutschen und so weiter. Etwa eine Dreiviertelstunde ergießen sich Hitlers Wortkaskaden über die Besucher. Dann verlangt er von Hácha ultimativ, eine Bitte nach deutschem Schutz zu unterschreiben. Und lässt ihn wissen, dass die Wehrmacht in wenigen Stunden einmarschieren wird - so oder so.

Dann soll Hácha mit Prag von einem Nebenraum aus telefonieren, doch die Verbindung kommt zunächst nicht zustande. Göring, der Chef der Luftwaffe ist, redet nun alleine mit dem Tschechen, und droht mit einer Bombardierung Prags. Das ist zu viel für den herzkranken Endsechziger, Hácha kippt um. Eine Injektion, die ihm Hitlers Leibarzt Theodor Morell spritzt, bringt ihn wieder zu sich. Die nächtliche Szene in der Reichskanzlei gleicht einer Nötigung, "wie man das aus Gangsterfilmen kennt", schreibt Hitler-Biograph Hans-Ulrich Thamer.

Schließlich hebt Prag das Telefon ab, Hácha gibt die Anweisung an alle tschechoslowakischen Behörden, den deutschen Einmarsch nicht zu behindern. Um kurz vor 4 Uhr morgens signiert er schließlich die von Hitler vorbereitete Dokument, in dem er "das Schicksal des tschechischen Volkes und Landes vertrauensvoll in die Hände des Führers des Deutschen Reiches" legt. Dann dürfen die Tschechen gehen.

Hitler zeigt sich "überglücklich", er attestiert sich das "größte politische Geniestück aller Zeiten" und spricht vom "schönsten Tag seines Lebens". Seine Sekretärinnen sind auch noch da. "So Kinder", ruft Hitler ihnen zu, "gebt mir mal da und da" auf die Wangen "jede einen Kuss".

Wenig später überschreiten deutsche Soldaten die Grenze nach Tschechien. Darunter befinden sich auch zwei Einsatzgruppen, die auf Befehl der SS-Führer Heinrich Himmler und Reinhard Heydrich Akten beschlagnahmen. Kurz darauf beginnen sie die "Aktion Gitter", bei der Tausende Tschechen, aber auch nach Prag geflohene deutsche Antifaschisten und Juden in Gefängnisse und Konzentrationslager verschleppt werden.

Auch Hitler macht sich auf den Weg, zuerst im Zug, das letzte Stück in einer dreiachsigen Mercedes-Limousine. Nach seiner Ankunft auf der Prager Burg umarmt er den SS-Chef, so schildert es Himmlers Adjutant der Tochter seines Chefs in einem Brief. Der Tyrann sprudelt demnach vor Stolz: "Ich lobe mich ja nicht, aber hier muss ich wirklich sagen, das habe ich elegant gemacht". Er meint die mafiöse Erpressung Háchas. Der Diktator sagt demzufolge noch: "Himmler, ist es nicht herrlich, dass wir hier stehen, hier sind wir nun und werden nie wieder gehen."

Das ist eine folgenschwere Fehleinschätzung. Ebenso falsch ist Hitlers Aussage, dass der Westen den Coup von Prag in zwei Wochen vergessen haben werde.

Wenige Tage später hält der britische Premier Chamberlain Hitler seine Wortbrüche vor: "Wir wollen keine Tschechen" habe Hitler den Briten und Franzosen mehrfach versichert und die gesicherte Existenz der tschechoslowakischen Republik versprochen. Nun geben Paris und London den nächsten potentiellen Opfer Hitlers Garantien ab, allen voran Polen. Trotz dieser Beistandsversprechen überfallen die Deutschen am 1. September 1939 den östlichen Nachbarn - es ist der Beginn des Zweiten Weltkriegs.

Churchill beklagt "Hyänenhunger" Polens

So bedeutete die Einverleibung Tschechiens "gleichzeitig die Einleitung des Finis Germaniae", so jammert Hitlers Chefdolmetscher Schmidt später in seinen schöngefärbten Erinnerungen.

Winston Churchill, der nach Kriegsbeginn bald Chamberlain als britischen Premierminister ablöst, beklagt hingegen in seinen Schilderungen über den Zweiten Weltkrieg andere Dinge. Er weist darauf hin, dass Polen nach dem Münchner Abkommen ebenfalls Teile der Tschechoslowakei annektiert hat.

Warschau habe sich "mit einem Hyänenhunger an der Plünderung und Zerstörung" des Nachbarlandes beteiligt. Außerdem hätte der Westen es 1938 auf einen Krieg mit Hitler ankommen lassen sollen, anstatt mit ihm zu paktieren. "Das Gewicht von 35 tschechischen Divisionen gegen die immer noch unfertige deutsche Armee", grollte Churchill, all das sei damals "verschleudert" worden. Doch nun war es zu spät.

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