Süddeutsche Zeitung

Hitler-Deutschland:Braunhemd und Nadelstreifen

Der Historiker Ulrich Herbert hat eine lohnende Aufsatzsammlung über Hitler-Deutschland vorgelegt - die scharfe Grenzziehung zwischen "den Nationalsozialisten" und "den Deutschen" hält er für falsch.

Rezension von Dietmar Süß

Wer diese Nationalsozialisten waren? An einer gehissten Hakenkreuzfahne könne man sie jedenfalls nicht unbedingt erkennen, meinte der Publizist Sebastian Haffner im englischen Exil. So etwas tue doch derzeit "jeder in Deutschland". Auch die Mitgliedschaft in der Partei oder einer NS-Gliederung besage noch nicht allzu viel. Die "wirklichen Nazis" waren aus Haffners Sicht eine eigene "psychologische Spezies", jene, die "dieser allgemeinen und permanenten sadistischen Orgie vorbehaltlos" zustimmten und dabei mitmachten.

Schon zeitgenössisch trieb das viele Beobachter des Dritten Reiches an: War Nationalsozialist, wer eine braune Uniform trug? Als sich die Alliierten in den Trümmern der Diktatur auf die Suche nach den Einstellungen und Empfindungen der Deutschen machten, fanden sie vieles, nur niemanden, der sich für das Regime begeistert hatte.

Ulrich Herbert, einen der profiliertesten Historiker des Nationalsozialismus überhaupt, beschäftigt diese Frage seit vielen Jahrzehnten. Seine Arbeiten haben den Impuls für viele Jüngere gegeben, sich intensiv und kritisch mit der Erforschung des Nationalsozialismus zu beschäftigen. Er selbst hat als junger Doktorand in einer bahnbrechenden Studie das Leben und den rassistischen Arbeitseinsatz von Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern untersucht - und das zu einer Zeit, als sich kaum jemand dafür interessierte und die Unternehmen ihre Archive noch vielfach verriegelt hatten.

Sein Interesse gilt der Geschichte der völkischen Bewegungen, der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik und deren Wirkungen bis in die Nachkriegszeit. Sein neues Buch ist keine Gesamtdarstellung, sondern enthält einige seiner - an unterschiedlichen Orten zumeist schon erschienenen - Aufsätze zu zentralen Aspekten des Dritten Reiches. Es sind lohnende, bisweilen funkelnde Stücke, die sich hier noch einmal finden und auch Einblick in ein Forscherleben geben.

Viele waren angeblich "anständig geblieben"

Wer waren also die Nationalsozialisten? Herbert gehört zu denjenigen, die schon früh davor gewarnt haben, es sich in diesem Punkt zu leicht zu machen. Lange dominierte nach Kriegsende das Bild der "Nazis" als Bande raubeiniger SA-Schläger, die sich blind ihrem "Führer" und seiner Clique um Goebbels, Himmler und Göring unterworfen hatten.

Manch einer versuchte, sich wie Albert Speer, der teutonische Großarchitekt und Rüstungsminister, als "guter Nazi" zu inszenieren; als einer, der aus gutem Hause stammend, trotz all der Rohheiten des Krieges "anständig" geblieben sei.

"Anständig geblieben": Das war gleichsam das bürgerliche Distinktionsmerkmal, mit der die akademischen Eliten, die Professoren, Beamten und Industriellen sich selbst gerne beschrieben, um Distanz zu den brutalen Schlächtern von der Gestapo zu markieren.

Eigentlich hätten sie nur Schlimmeres verhindern wollen. Eindringlich beschreibt Herbert in vielen seiner Beiträge, wie sehr dieses Stereotyp von den Nationalsozialisten als das vermeintlich "Andere" das Selbstbild vieler Deutscher in der jungen Bundesrepublik prägte.

Der Freiburger Historiker hat mit seinen Forschungen viel dazu beigetragen, dass sich diese Wahrnehmung inzwischen geändert hat und auch jene in den Blick geraten sind, die das Räderwerk der Vernichtung durch ihre bürokratischen Kenntnisse, ihre wissenschaftliche Expertise, durch die Teilidentität der Ziele unterstützten.

Klar jedenfalls ist: Die scharfe Grenzziehung zwischen "den Nationalsozialisten" und "den Deutschen" ist nicht nur falsch, sondern vielfach ein Versuch der apologetischer Selbstentlastung gewesen.

Viele NS-Begriffe waren offen für unterschiedlich radikale Deutungen

Die Aufsätze kreisen immer wieder um die Funktionsträger des Massenmordes, die vielfach gut ausbildet waren und oftmals als völkische Akademiker bereits in den Krisenjahren der Weimarer Republik zur NS-Bewegung dazugestoßen waren. Antisemitismus und Antiparlamentarismus gingen Hand in Hand.

Es machte gerade das Wesen des Nationalsozialismus aus, dass Begriffe wie "Rasse", "Führer" und "Gemeinschaft" offen für unterschiedlich radikale Deutungen waren. Und es war gerade diese Offenheit, aus der der Nationalsozialismus einen Teil seiner gewalttätigen Dynamik und seiner Attraktivität schöpfte. Dieses Ideenamalgam war explosiv, versprach es doch vielen vieles zugleich - und machte es möglich, Gewalt, Expansion und die "Reinigung des Volkskörpers" zusammenzudenken.

Herberts Beiträge reichen von der Analyse der akademischen Eliten, der vergleichenden Geschichte der Lager und der Besatzungspolitik bis hin zum Entscheidungsprozess für den Massenmord an den Juden und bis zur Spurensuche, wie aus diesem gewalttätigen Erbe und den personellen Kontinuitäten überhaupt eine funktionsfähige Demokratie werden konnte.

Seine Antwort: Einerseits ermöglichte "die Reduktion der Verantwortung für Massenmord und Genozid auf ein paar, in der Regel bereits gestorbene Galionsfiguren" eine "putative Pauschalentlastung nahezu aller überlebenden Ex-Nationalsozialisten selbst in führenden Stellungen".

Andererseits aber sei vor allem der "geduckte Opportunismus (...) als Ausdruck und Voraussetzung für die politische Neutralisierung dieser Gruppe" erkennbar. "Nicht wenige von denen, die (...) ihren Opportunismus belohnt sahen, wandelten sich aber auch tatsächlich zu überzeugten Demokraten."

Man wird darüber streiten können, wie weit dieser Gesinnungswandel tatsächlich reichte. Und auch die Diskussion über die Prägekraft der "Volksgemeinschaft", die, wie Herbert meint, "offenbar sehr begrenzt" gewesen sei, ist noch lange nicht abgeschlossen.

Dass jedenfalls die völkischen Herren, die sich dem Kampf gegen die Demokratie verschrieben haben, nicht selten akademisch gebildet waren und gerne auch Nadelstreifen und Krawatte trugen - auch daran erinnert dieses Buch. Geschichte ist dann schnell auch Gegenwart.

Dietmar Süß lehrt Neuere und Neueste Geschichte an der Uni Augsburg.

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SZ vom 22.02.2021/odg
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