Süddeutsche Zeitung

Historiografie der NS-Zeit:Schmerzliches Vermächtnis

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Magnus Brechtkens Aufsatzsammlung bietet einen brillanten Überblick zum Stand der Forschung über den Nationalsozialismus. Eine breitere Übersicht findet man nirgends.

Von Knud von Harbou

Es ist faszinierend, dreißig Beiträgen zu folgen, die nach der Konzeption des Herausgebers Magnus Brechtken den Status quo der wissenschaftlichen Aufarbeitung des Nationalsozialismus (NS) abbilden sollen. Bewusst will der stellvertretende Direktor des Instituts für Zeitgeschichte (IfZ) München-Berlin ein Kompendium, keine Enzyklopädie vorlegen. Das ist viel.

Dabei wird die Aufarbeitung als kumulativer Prozess verstanden, der keineswegs linear verläuft. In ihr sind vier Phasen erkennbar, die im Fokus stehen: die Analyse des NS bis 1945, die Ursachenforschung und der schwierige Beginn der Aufarbeitung nach Kriegsende, die empirische Forschung und der Umgang damit seit 1945 sowie als Kernproblem die historische Kontinuität und Diskontinuität von Weimar bis in die frühen 1970er-Jahre.

Dominiert wurde die Nachkriegszeit von einem "kommunikativen Beschweigen" (Hermann Lübbe) der Schuldgefühle im Wissen um die NS-Verbrechen. Aufklärerische Forschung über den NS, zunächst unter dem Begriff Totalitarismus subsumiert, hatte da keinen Platz. Zu fest war die Schablone von einer skrupellosen Machtelite und einem angeblich verführten Volk etabliert. In den 60er-Jahren schälten sich Einzelfalluntersuchungen heraus, die immerhin neues Licht auf institutionelle Dynamiken warfen.

Es ist gut, sich ins Gedächtnis zu rufen, dass überhaupt erst seit Ende der 80er-Jahre Standardwerke wie Raul Hilbergs "Vernichtung der europäischen Juden", Christopher Brownings "Ganz gewöhnliche Männer" oder Saul Friedländers Studie über die Judenverfolgung in Deutschland erschienen.

Erst spät rückte die "Volksgemeinschaft" in den Blick

Wie schwer es fiel, sich dem Genozid zu stellen, zeigte im Grunde noch der Historikerstreit, in dem Ernst Nolte die Massenvernichtung als Reaktion auf schon vorher praktizierte stalinistische Verfolgung erklärte. Erst nach einer Phase konkreter Täterforschung rückte in den 90er-Jahren die "deutsche Volksgemeinschaft" in den Fokus der Forschung. Statt "das Volk" als verführte Gesamtheit zu sehen, welches so in keiner kollektiven Mitverantwortung stand, wandte man sich jetzt der Kollaboration der Gesamtbevölkerung zu, die den Judenmord letztlich als "Selbstzweck aus ideologischer Glaubensgewissheit" (Magnus Brechtken) legitimierte.

Es folgten neue Einschätzungen, wie etwa über die Struktur des Kaiserreichs, dessen Verbindung zum Dritten Reich, die Einordnung von Weimar. Zentrale Position des Kompendiums bleibt, aus einer rationalen Position Strukturen zu analysieren. Nur so sieht man den Anspruch nach einem überzeugenden Forschungsquerschnitt gesichert.

Den einzelnen Themen mit einer enormen Bandbreite widmen sich renommierte Fachleute mit einer Fülle relevanter Details und weiterführenden Anmerkungen. Der Aufarbeitung vorangestellt hat der Herausgeber gewissermaßen ihr institutionelles Fundament, das Institut für Zeitgeschichte in München. Vielleicht symptomatisch für den schleppenden Verlauf historischer Introspektion ist, dass es bislang keine Institutsgeschichte gibt. Auch spielte das IfZ selbst in der Diskussion über Historiker im Dritten Reich keine Rolle, was sich erst auf einer Tagung zu Raul Hilbergs zehntem Todestag 2017 ändern sollte. Ursprünglich war das Institut denn auch eine Initiative von Kulturpolitikern, die einen unabhängigen Forschungsstandort ohne Einfluss der Alliierten suchten. So nahm das IfZ mit den drei Sparten Archiv, Forschung und Publikationen im Sommer 1950 seine Arbeit auf. Zuvörderst galt es eine Historiografie der KZ zu erarbeiten, in denen mehr als 1,7 Millionen Häftlinge ermordet wurden.

Hannah Arendt und Raul Hilberg leisteten Pionierarbeit

Frank Bajohr verdanken wir eine vorzügliche Übersicht über die Entwicklung der Holocaustforschung. Er weist vor allem auf die Zäsuren in der Forschung hin, so auf den Trend der "Alltagsgeschichte" seit Ende der 60er-Jahre, den Einbezug des Rassismus in die Humanwissenschaften und auch welch große Bedeutung Auschwitz und die NS-Vernichtungspolitik in den 80er-Jahren unter Einschluss der Frage nach der Singularität des Holocaust anhand des Historikerstreits 1986/87 gewannen. Etwa zu dieser Zeit etablierte sich auch ein internationaler Bezug der Holocaustforschung, unterstützt von neuen Forschungsstätten. Christopher Browning stellt dazu amerikanische Perspektiven vor und verweist besonders auf den Eichmann-Prozess in Jerusalem und Hilbergs Originalausgabe der "Vernichtung der europäischen Juden" von 1961.

Beides wurde legendär durch Hannah Arendts Charakterisierung Eichmanns als "Banalität des Bösen" und Hilbergs Sichtweise des NS-Regimes als einer "Maschinerie der Vernichtung" in Gestalt von Partei, Militär, Ministerialbürokratie und Industrie. Darüber hinaus stellt er in feinsten Facetten die Positionen der Wissenschaftskontroversen vor. Die Hamburger Historikerin Ulrike Jureit kritisiert vehement eine Erinnerungskultur, "die sich normativ davon verabschiedet, ihre eigenen Deutungen und Praktiken immer wieder neu zu hinterfragen, die die Auseinandersetzungen mit dem Holocaust also allenfalls noch als konservierende 'Vergangenheitsbewahrung' verstanden wissen will".

Es war 1958 der Initiative von Generalstaatsanwalt Fritz Bauer zu verdanken, ein Konvolut mit 100 000 Fahndungsakten nicht dem Bundesarchiv, sondern der Zentralen Stelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen in Ludwigsburg zu überantworten, wo sie von Juristen und Historikern bearbeitet wurden. Mangels ausreichender Planstellen drohten die sogenannten Vorermittlungen einzuschlafen, hätten nicht die Vereinten Nationen die Fahndungsliste mit 30 000 neuen Tatverdächtigen nach Ludwigsburg übermittelt. Statt es bei den Ermittlungen auf dem Führerbefehl und einem allgemeinen Befehlsnotstand zu belassen, legten die Ermittler ein ganzes Motivbündel fürs "Mitmachen" aus kollektivem Gruppendruck, Konkurrenzdenken, Anpassungsbereitschaft, Geldgier und Mordlust offen. Beispielgebend hierzu war das Verfahren gegen das Hamburger Reservepolizeibataillon 101, das in Erschießungsaktionen der Einsatzgruppen in den besetzten Ostgebieten eingebunden war.

Entscheidend jedoch war der damit einhergehende Wandel in der Dogmatik der Mordbeihilfe. Erstmals genügte es, dass untergeordnete Angehörige der Wachmannschaften auch ohne direkte Teilnahme an den Tötungshandlungen verurteilt werden konnten. Indes blieb die Zahl der Verurteilungen trotz Auswertung neuer Quellen vor Ort unbefriedigend.

Nur langsam kam die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit der Bundesministerien in die Gänge, so vergaben diese erst von 2005 an Aufträge über Studien zur Vergangenheit ihrer Häuser. Nirgends war die Resonanz deutlicher als bei der Untersuchung über die Rolle des Auswärtigen Amts zwischen Drittem Reich und BRD. Nur grob geht der Sammelband auf die NS-Vergangenheit der DDR-Ministerien ein, bis heute steht eine Aufarbeitung am Anfang.

Die Forscher zählten allein 3700 Titel zu Adolf Hitler

Einem interessanten Aspekt im Rückblick auf die Vergangenheit widmet sich ein Beitrag über Hitler-Bücher von 1945 bis heute und damit auch über die Rolle der Verlage als vergangenheitspolitische Akteure. Abseits des breiten Spektrums von etwa 3700 Titeln über Hitler und den NS stellte allein das Fernsehen mit dem Medienereignis "Holocaust" (1979) die "kollektiven Erinnerungen an den Nazi-Völkermord auf eine neue Grundlage". Der Film setzte nach Meinung von Wulf Kansteiner mit einer Einschaltquote von 40 Prozent einen "nie wieder erreichten Maßstab für selbstkritische Erinnerungspolitik", stärker noch als "Schindlers Liste" (1993).

Es waren jedoch nur diese populären Formate, die immerhin eine gewisse Beziehung zu dem Sujet herstellten. Anders als Claude Lanzmanns neunstündiger Dokumentarfilm "Shoa" (1985), den nur vier Prozent der Haushalte einschalteten. Kansteiner vermutet, dass die Zukunft der Holocaust-Erinnerung durch Videospiele und künstliche Intelligenz bestimmt werde. Wie stark die Abwehr gegen das Wissen über Krieg und Holocaust verankert war, zeigte die Flut von Heimatfilmen, aber auch militärischen Verklärungen der 50er-Jahre. Es dauerte bis zur Jahrtausendwende, als es zu einem Boom an Filmen über die NS-Zeit kam.

In einem weiten Bogen widmet sich der Band sehr detailliert dem Forschungsstand der Raubkunst- und Provenienzdebatte. Welche Dimension einer deutschen Vergangenheitserinnerung zukommt, zeigte sich erst jüngst anhand der Frage, in welcher Beziehung der Holocaust und der Kolonialismus stehen. Gewiss gibt es, wie Bill Niven meint, eine kausale Verflechtung, jedoch sollten beide nicht "gegeneinander ausgespielt werden".

Brechtkens großartiges Kompendium beansprucht keine Vollständigkeit, das kann es auch gar nicht. Eine breitere Übersicht zum Stand der NS-Forschung jedoch findet man nirgends.

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Quelle:
SZ vom 11.10.2021
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