Nationalismus in der EU:Europa als Albtraum?

Euro-Krise, Flüchtlingskrise, Schuldenkrise: Ein Traum ist Europa nur noch für Menschen, die aus Gegenden fliehen, in denen Freiheit und Wohlstand nicht als langweilig gelten. Und ausgerechnet vor denen fürchten sich die Europäer, die Europa heute für einen Albtraum halten. Doch der reaktionäre Nationalismus ist gefährlich.

Kurt Kister

Europa ist an allem schuld. Diesen Eindruck kann man gewinnen, wenn man auf die Debatten sieht, die derzeit zwischen Kopenhagen und Athen, zwischen Paris und Budapest geführt werden. Nein, es sind nicht nur nationalistische Populisten wie in Dänemark, Ungarn oder durchaus auch in Italien, die ihre Vater- und Mutterländer von kriminellen Migranten und ausländischen oder mindestens heimatlosen Wertezerstörern bedroht sehen.

Lampadusa migration

Europa, ein Traum: Migranten bei der Ankunft auf Lampedusa.

(Foto: dpa)

In Griechenland, Portugal und Spanien zetern Konservative, aber auch viele Linke gegen die als neoliberal und von außen, von "Europa", oktroyiert empfundene Sparpolitik.

Die Briten, zumal unter ihrer Regierung der mokanten jungen Männer, verharren grundsätzlich in ihrer unsplendid isolation; ihre Wahrnehmung von Europa ist nicht milder, sondern eher noch ein wenig hämischer geworden. Und in Deutschland, jedenfalls in weiten Teilen der Bevölkerung, wird Europa überwiegend mit dem Beiwort "-krise" assoziiert: Euro-Krise, Flüchtlingskrise, Schuldenkrise.

Europa, so scheint es vielen, ist jene von der politischen Klasse betriebene Brüsseler Veranstaltung, die unser Geld verschlingt, was uns dann auch noch in einer unverständlichen Formelsprache von großzähnigen Grauanzügen als "gut für uns alle" erklärt wird.

Nun war Europa einmal ein Traum. Die europäischen Kriege im 20. Jahrhundert bedeuteten den blutigen Bankrott des Nationalismus und der Ideologien. Leider führte die Befreiung Europas von Hitler-Deutschland auch zur neuerlichen Konfrontation zwischen den Blöcken. Bis zur überraschenden Wende 1989/90 erschien ein Europa ohne Schlagbäume im damals real existierenden Europa mit Mauer, Stacheldraht und Minensperren nicht wie ein Fernziel der Politik, sondern wie eine Illusion.

Niemals wieder Krieg in Europa

Die Generation Helmut Kohls hielt an dieser Illusion dennoch fest, weil sie zumindest das Wunder Westeuropa erlebt und mitgestaltet hatte. Nach 1945 wurde der Schurkenstaat Deutschland unter heftiger Hilfe der Vormacht USA über EWG und später EG (und durchaus auch die Nato) rehabilitiert und als eifrigstes, bald zahlungskräftiges Mitglied in die neue Gemeinschaft eingebaut.

Bis in die achtziger Jahre hinein verstanden viele Menschen die Gemeinschaft als ein, wenn nicht das Garantie-Instrument, um zu verwirklichen, was Neville Chamberlain 1938 fälschlicherweise als Erfolg des Münchner Abkommens gefeiert hatte: Never to go to war with one another again, niemals wieder Krieg in Europa.

Als dann 1989 ff. auch noch die Illusion Wahrheit wurde, sahen die Westeuropäer in der EU wiederum jenes Gremium, um die Neuen zu integrieren und auf der richtigen Seite zu stabilisieren. Die Tore der EU wurden weit geöffnet, zu weit und zu schnell, wie man heute weiß. Vor der Zeitenwende hatte sich die EU zu einer intern verschlungenen und schwierigen, nur partiell demokratisch gesteuerten Organisation mit einem hohen politischen Anspruch und einer in erster Linie wirtschafts-, agrar- und sozialpolitischen Wirklichkeit entwickelt.

Es fehlt: Ein Europa-Gefühl

Mit dem Erweiterungsprozess, der leider immer noch fortgeführt wird, wurde aus der EU eine Art OSZE des 21. Jahrhunderts: ein Gebilde, das um einen harten Kern von Euro und Schengen-Vertrag allmählich in selbstgefährdender Manier ausfasert. Bei der ständigen Erweiterung wurde zu schnell zusammengefügt, was bis heute nicht so recht zusammenpasst. Die verschiedenen Versuche, die Struktur dieser Union den neuen Realitäten anzupassen, sind nicht so erfolgreich gewesen, wie es nötig wäre.

In ihrer Enttäuschung treffen sich nun EU-Optimisten und Europa-Skeptiker. Die einen beklagen, dass Europa nicht mit einer Stimme spreche und zu oft in nationalem Kleinstaatdenken verharre. Ihnen gibt die EU zu wenig Europa. Den anderen aber ist die EU zu souveränitätsgefährdend, zu bürokratisch, zu gleichmacherisch. Allerdings nehmen auch die Skeptiker wahr, dass der diffamierte Moloch so effizient nicht ist. Über den Zustand Europas klagen die Bundesstaats-Verfechter genauso wie die Skeptiker.

Optimisten wie Pessimisten, und der normalen Bevölkerung zumal, fehlt vor allem eines: ein Europa-Gefühl. Die Nachkriegsgeneration und ihre Kinder fürchten nicht mehr Verdun oder Marzabotto, und deswegen ist für sie Europa auch kein Traum mehr. Eine europäische Identität hat sich nicht entwickelt; nachgedacht wird darüber eigentlich nur, wenn es um die Abgrenzung zu dem geht, was nicht als zu Europa gehörig empfunden wird.

Selbst das weitgehend freie Reisen, die Gemeinschaftswährung oder das Gerichtswesen sind bereits so verinnerlicht, nein: abgehakt, dass ihr Lobpreis den Sonntagsreden vorbehalten zu sein scheint. Die Kritik an ihnen aber wird mehr und mehr üblich.

Ein Traum ist Europa heute nur noch jenen, die aus Gegenden fliehen, in denen Freiheit und relativer Wohlstand nicht als üblich, ja als langweilig angesehen werden. Ausgerechnet vor denen, die noch von Europa träumen, fürchten sich jene Europäer, die Europa heute für einen Albtraum halten, zum Beispiel die DVP-Dänen oder Ungarns Neo-Pfeilkreuzler. Der reaktionäre Nationalismus gefährdet Europa noch mehr als die Gleichgültigkeit.

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