Süddeutsche Zeitung

Napoleon Bonaparte:Kaiser Europas

Massenmörder oder großer Staatenlenker? Vor mehr als 250 Jahren wurde Napoleon Bonaparte geboren. Über Frankreichs Nationalmythos - und was den Korsen mit dem heutigen Präsidenten Emmanuel Macron verbindet.

Von Jean-Marie Magro

Seine Kritiker sagen, er habe Hunderttausende Menschen aus Größenwahn auf dem Gewissen und die Sklaverei, die während der Revolution abgeschafft wurde, wieder eingeführt. Selbst 250 Jahre nach seiner Geburt sind sich die Franzosen uneins über das Vermächtnis Napoleons. Denn viele sehen ihn nach wie vor positiv: Napoleon sei der Mann gewesen, der die Franzosen nach einer schiefgegangenen Revolution miteinander versöhnte, der Rechtssicherheit schaffte und den Frieden mit der Kirche schloss. Vor allem aber war Frankreich nie so groß wie zur Zeit Napoleons.

Zwei Zahlen dazu, wie sehr Napoleon die öffentliche Meinung in Frankreich bis heute beeinflusst: 80 Prozent wünschen sich einen starken Mann an der Spitze des Staates, 40 Prozent könnten sich sogar laut einer Umfrage des Instituts Ifop vorstellen, das Schicksal des Landes einer "autokratischen politischen Macht" zu überlassen.

Napoleon Bonaparte wurde am 15. August 1769 in Ajaccio auf Korsika geboren. Seine Muttersprache war Italienisch, sein Französisch katastrophal. Er sprach undeutlich und verwechselte Wörter. Später wurde er dafür von Schulkameraden gemobbt, woraufhin sich Bonaparte abschottete. Er war ein Nerd, interessierte sich für Mathematik, speziell für Geometrie, und las viele Heldenerzählungen. Außerdem himmelte er den legendären korsischen Widerständler Paoli an und träumte von einem unabhängigen Korsika.

Doch wegen eines Streits zwischen den korsischen Unabhängigkeitskämpfern und einem von Napoleons Brüdern musste die Familie Bonaparte von der Insel fliehen. Spätestens jetzt bewies Napoleon, wie anpassungsfähig er war. Er konzentrierte sich auf seine Karriere bei der französischen Armee und stellte sich nach der Revolution 1793 auf die Seite der extremen Bergpartei von Maximilien Robespierre. Bonaparte lernte dessen Bruder Augustin kennen, der ihm schnell zu Verantwortung verhalf. Der Weg für den Aufstieg schien geebnet zu sein, doch wenig später fraß die Revolution ihre wütendsten Kinder; die Robespierres starben im Juli 1794 unter der Guillotine. Bonaparte wurde für kurze Zeit inhaftiert, er verlor sein Kommando.

"Die Revolution ist zu Ende. Ich bin die Revolution."

Seine große Chance wartete ein Jahr später auf ihn. Bonaparte schwor, die Republik mit all seiner Macht gegen diejenigen zu verteidigen, die in Frankreich die Monarchie wieder einsetzen wollten. Im Oktober 1795 erhielt er dazu die Gelegenheit und ließ im Namen der Republik einen Aufmarsch der Royalisten in Paris niederschießen. Zur Belohnung vertraute das Direktorium, die kurz danach eingesetzte französische Regierung, Bonaparte das Kommando über die französische Italienarmee an. Und so verfügte ein gerade einmal 26 Jahre junger General über eine Streitkraft von 40 000 Mann.

Er erwies sich als außergewöhnlich talentiert, als Heerführer wie als Machtpolitiker. Seine Armee eilte in Italien von Sieg zu Sieg. Neben seinen Erfolgen auf dem Schlachtfeld handelte Bonaparte die Waffenstillstände aus, organisierte die Territorien neu und rief Republiken aus, wie etwa die Cisalpinische oder die Ligurische. Außerdem bewies er großes propagandistisches Geschick. Im aufgewühlten Frankreich wurde Napoleon Bonaparte schon damals bewundert: Man sah in ihm einen Retter, den vom Schicksal Auserwählten.

Der aktuelle französische Staatschef inszenierte sich anfangs auch gerne als Retter der Nation. Doch Emmanuel Macron war kein Außenseiter, wie Bonaparte es war. Geboren wurde er in der nordfranzösischen Großstadt Amiens. Die Eltern sind Ärzte, der Vater Professor für Neurologie, die Mutter Kinderärztin. Macron wuchs in einem sehr kultivierten Haushalt auf. Während Bonaparte sich um seine jüngeren Geschwister kümmern musste, weil sein Vater früh starb, konnte Macron sich im selben Alter auf seine Schullaufbahn konzentrieren. Er spielte Klavier und Theater und lernte so seine spätere Frau, die 24 Jahre ältere Brigitte Trogneux, kennen. Bonaparte verliebte sich ebenfalls in eine wenn auch nur sechs Jahre ältere Frau, Joséphine de Beauharnais, die ihm zwar untreu war, ihm jedoch den Eintritt in die Pariser Gesellschaft ermöglichte.

Sowohl Bonaparte als auch Macron bewiesen als junge Männer vor allem: Sie waren talentiert, zielstrebig und sie hatten ein verdammt gutes Gefühl für den richtigen Moment.

Als Bonaparte aus Italien zurückkehrte, sah er die Zeit noch nicht gekommen, in Paris Macht zu beanspruchen. Stattdessen entschloss er sich 1798 für eine Expedition nach Ägypten, um die britische Vormacht im Mittelmeer zu brechen - was zum Desaster geriet. Vor Abukir vernichtete Admiral Lord Nelson die französische Flotte. Bonaparte büßte die Hälfte seiner Männer in Ägypten und Palästina ein. Er ließ seine Truppen zurück und floh auf einem Segelschiff nach Frankreich.

Bonaparte fand bei seiner Rückkehr ein Land in einem absolut katastrophalen Zustand vor. Frankreich steckte seit Jahren in einem unaufhörlichen Bürgerkrieg. Allein in der Vendée, der kleinen Region am Atlantik, waren Hunderttausende Menschen getötet worden. Das Direktorium hatte abgewirtschaftet. Napoleon wollte dieses Land mit sich versöhnen und sprach sich ab mit einflussreichen Politikern wie dem Abbé Sieyès oder dem zwielichtigen, später von Stefan Zweig porträtierten Polizeiminister Joseph Fouché. Er wusste außerdem den späteren Außenminister Talleyrand auf seiner Seite.

Im November 1799 putschte Napoleon sich mithilfe seiner Verbündeten als Erster Konsul der Republik an die Staatsspitze. Der neue starke Mann war kein Dogmatiker. Er wusste, ein Frieden in Westfrankreich würde nur in Absprache mit den Royalisten möglich sein, den Anhängern der gestürzten Monarchie. Sein Motto lautete: "Ni bonnet rouge ni talon rouge". Er war also weder auf der Seite der rote Mützen tragenden Sansculotten noch der Aristokraten. Napoleon war nicht links, nicht rechts. Er stand im "extremen Zentrum".

Es ist eine Formel, derer sich Macron quasi wortgleich bedient. Macron wird bisweilen ein bonapartistischer Führungsstil vorgeworfen: Er stehe über den Dingen und habe wenig Einfühlungsvermögen. Tatsächlich ist ein Vergleich zwischen den beiden Staatslenkern reizvoll. Sowohl Bonaparte als auch Macron wurden in jungen Jahren Staatsoberhäupter Frankreichs. Beide wollten ein marodes System beseitigen und beweisen, dass die Staatsspitze handlungsfähig war. Napoleon verkörperte eine Revolution, die bis dahin keinen Anführer hatte. Er selbst soll gesagt haben: "Die Revolution ist zu Ende. Ich bin die Revolution." Emmanuel Macron wiederum erkannte besser als jeder andere, dass das französische Parteiensystem mit seinem betonierten Links-Rechts-Schema am Ende war.

Der Krieg nährt sich vom Krieg. Das zeigte Napoleons Herrschaft in aller Brutalität

Im Wahlkampf veröffentlichte Macron ein Buch, das einen passenden Titel trägt: "Révolution". Sowohl ehemalige Sozialisten als auch Konservative unterstützten Macron. Er profitierte davon, dass sich ein Konkurrent nach dem anderen aus dem Rennen nahm und er am Ende das einzige vernünftige Angebot gegen die rechtsextreme Marine Le Pen darstellte. Während Napoleon die Speerspitze einer Revolution war, klebte Macron aus dem Scherbenhaufen der Parteien ein schönes Muster zusammen und verkaufte dies als einen großen Umbruch. Beide wussten das Momentum der Geschichte auf ihrer Seite.

Bonaparte verabschiedete mit hohem Tempo viele, sehr viele Reformen. Er führte die Präfekturen ein, die es in Frankreich bis heute gibt, den Franc als neue Währung und die landesweiten Gymnasien. Schließlich legte er den "Code civil" vor, das umfassende Gesetzeswerk. Eine seiner wichtigsten - und von den früheren Revolutionären kritisierten - Entscheidungen war die Rehabilitierung der Kirche. Neben dem Bürgerkrieg war der Kampf um die Religion der zweite große Konflikt, der in Frankreich seit Ausbruch der Revolution herrschte. Die Privilegien des Klerus waren abgeschafft, viele Kirchen geplündert worden.

Da die Katholiken in Frankreich in der großen Mehrheit waren, stützte er sich ganz bewusst auf sie und stellte sich als Staatschef einer katholischen Nation dar, erkannte aber auch die protestantischen Kirchen und etwas später das Judentum an. Die Kaiserkrönung am 2. Dezember 1804 in Notre-Dame de Paris war dann ein Meisterstück der Selbstinszenierung, eine Mischung aus Pomp und Politik. Viele Marschälle und Generäle, die der Krönung beiwohnten, sollen sich über den katholischen Eifer des Kaisers lustig gemacht haben.

Frankreich ist das Land der Symbole. Das Nationaltier, der Hahn, ist ein Symbol des Stolzes. Und wenn Frankreich das Land der Symbole ist, so ist Emmanuel Macron Professor der Symbolpolitik. Als er am Abend seiner Wahl musikalisch untermalt von Beethovens "Ode an die Freude" in den Innenhof des Louvre schritt. Oder als Donald Trump aus dem Pariser Klimavertrag ausschied und Macron auf Englisch die amerikanischen Wissenschaftler unter der Parole "Make our planet great again" nach Frankreich einlud. Frankreich will bis heute weltpolitisch eine wichtige Rolle spielen, weil es seine Größe aus der Zeit des Kaisers Napoleon noch immer vor Augen hat.

Als Konsul hatte Napoleon noch versucht, Frieden mit Großbritannien, Russland, Österreich und dem Osmanischen Reich zu schließen. Doch diese hatten keinerlei Interesse an einer Revolutionsregierung in Frankreich. Sie wollten in dem Nachbarland wieder einen König einsetzen, weil sie sich davor fürchteten, dass auch ihre Völker aufbegehren würden. Frankreich musste sich gegen diese Koalition militärisch immer wieder zur Wehr setzen. Gegen die Österreicher erzielte Bonaparte 1800 einen entscheidenden Sieg im italienischen Marengo.

Der Krieg nährt sich vom Krieg, das zeigt die Herrschaft Napoleons. Er soll mehr als die Hälfte seiner Zeit als Kaiser außerhalb von Paris auf Schlachtfeldern, in einer Kutsche oder auf einem Pferd verbracht haben. Napoleon hat selbst gesagt, dass seine Herrschaft ausschließlich durch seine Erfolge auf dem Schlachtfeld legitimiert sei. Denn im Gegensatz zu den Königen zuvor war er nicht auf dem Thron geboren. Als Kaiser fing Napoleon erst so richtig mit seiner Eroberungspolitik an. Sein Hauptziel dabei war, den Engländern eine vernichtende Niederlage beizubringen. Napoleon bereitete eine Invasion vor, scheiterte aber daran, dass Frankreichs Marine es nie mit der britischen aufnehmen konnte. Dafür erzielte Napoleon gegen die Österreicher, Russen und Preußen einen Erfolg nach dem anderen. Der glorreichste, der von Napoleon-Fans bis heute gepriesen wird, ist der Sieg in Austerlitz 1805.

Napoleon stand nach Austerlitz auf dem Gipfel seiner Macht und diktierte den Nachbarn Frieden zu seinen Konditionen; die west- und süddeutschen Länder wurden durch den Rheinbund völlig neu geordnet, in enger Allianz mit Frankreich.

Das alte "Heilige Römische Reich deutscher Nation" samt Kaiserkrone war aufgelöst. Aus Frankreich kamen aber nicht nur Soldaten, sondern auch viele liberale Ideen und Modernisierungen.

In Russlands eisigem Winter starb eine ganze Armee - und ein imperialer Traum

Ein Franzose an der Spitze Europas: Macron versucht gelegentlich, an diesen alten Traum anzuknüpfen. Erst kürzlich, als um die Spitzenposten in der Europäischen Union gerungen wurde, demonstrierte der Mann, was Durchsetzungsvermögen bedeutet. Die Idee, Ursula von der Leyen als Präsidentin der EU-Kommission zu installieren, kam aus Paris, nicht aus Berlin. Auf die zuweilen leicht lethargischen Nachbarn blickt man in Paris sowieso nicht mehr ehrfürchtig. Deutschland ist zwar ein ökonomischer Riese, aber im Vergleich zu Frankreich ein militärischer Zwerg. Doch die Wahrheit traut man sich so offen nicht auszusprechen: Frankreich wird nie wieder die bedeutende Größe auf der Weltbühne spielen, die seinem Selbstverständnis entsprechen würde.

Napoleon wurde auf dem Höhepunkt seiner Macht immer maßloser, eroberte immer weitere Territorien in Norditalien, Spanien oder Portugal und schloss diese direkt an Frankreich an. Französische Soldaten besetzten Ländereien, pressten sie aus und mussten von den Einheimischen verpflegt werden, die außerdem Steuern an Frankreich zahlten. Eine geschickte Politik, denn so konnte Napoleon in Frankreich Steuererhöhungen vermeiden. Sein größter Fehler war aber ein anderer: Da er es nicht über den Ärmelkanal nach Großbritannien schaffte, versuchte Napoleon, die Engländer auszuhungern - mit einer Wirtschaftsblockade. Die besiegten Mächte durften keinen Handel mehr mit ihnen treiben.

Frankreich konnte die Blockade aber nicht aufrechterhalten. Als herauskam, dass sich Russland nicht mehr an die Bedingungen hielt und den Handel wieder aufgenommen hatte, entschloss sich Napoleon zum Handeln, wieder mit Gewalt. Obwohl ihm treue Verbündete inständig davon abrieten, marschierte er 1812 mit seiner europäischen Armee nach Russland. Napoleon wollte Russland niemals erobern, sondern es zur Räson bringen.

Da die Russen der militärischen Stärke der Grande Armée nicht gewachsen waren, zogen sie sich immer weiter zurück und setzten Teile von Moskau in Brand. Eine Verpflegung der Truppen war kaum mehr möglich. Für den Kaiser gab es nichts zu holen. Er sammelte seine Truppen und zog sich zurück, doch aus dem Rückzug wurde eine Flucht. Wegen des unglaublich kalten Winters sollen zwischen 250 000 bis 300 000 Soldaten ihr Leben gelassen haben. Es war eines der größten militärischen Desaster der Geschichte. Nun erhoben sich die Unterworfenen. In Leipzig schlug eine Koalition aus Russland, Preußen, Österreich und Schweden die Armee des französischen Kaisers, die Alliierten stießen bis nach Frankreich vor, setzten ihn ab und verbannten ihn 1814 auf die Insel Elba. Napoleons Ära schien vorbei zu sein. Doch wie es ein Sprichwort sagt, das auf Napoleon zurückgehen soll: "Unmöglich" ist kein französisches Wort.

Weil die wieder eingesetzte Monarchie unbeliebt war, kehrte Napoleon 1815 für kurze Zeit wieder auf den Thron zurück, und er gab den Geläuterten. Er versprach den Franzosen mehr Freiheiten, ließ die weiße Fahne der Monarchie abhängen und die blau-weiß-rote Trikolore hissen. Vor allem aber versprach er den Frieden.

Es war ein leeres Versprechen. Die Mächte im Rest Europas wollten keine französische Revolutionsregierung akzeptieren, schon gar nicht unter der Führung des unberechenbaren Machtmenschen Napoleon. Also steuerten sie auf die entscheidende Schlacht im belgischen Waterloo zu, wo Napoleon knapp, aber endgültig unterlag. Danach wurde er auf die britische Atlantikinsel St. Helena verbannt. Für immer.

War er nun also ein blutrünstiges Monster, wie die Engländer sagten? Oder setzte man ihm, wie Napoleon selbst es ausdrückte, eine Dornenkrone auf? Fest steht, dass die Kriege mit französischer Beteiligung schon vor ihm anfingen und auch nach ihm weitergingen. War Napoleon also Getriebener oder Kriegstreiber? Er selbst soll einmal gesagt haben, dass die Geschichte darüber entscheiden werde, ob es für den Frieden nicht besser gewesen wäre, wenn er nie gelebt hätte. Zum Mythos Napoleon gehört wohl, dass er selbst 250 Jahre nach seiner Geburt höchst umstritten ist, eine Jahrhundertfigur eben, deren düsterer Glanz bis heute nachwirkt.

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SZ vom 10.08.2019/odg
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