Die Wut, sie ist spürbar in diesem Zelt neben der Knesset, dem israelischen Parlament. Und das nicht nur, weil die Verstärkeranlage so stark aufgedreht ist, dass die Lautsprecher die Planen des Zeltes zum Beben bringen, in dem sich Gegner des Deals mit der Hamas drängen. Das Mikrofon hält Amichai Elijahu, Sohn einer hart rechten Rabbinerdynastie, er hatte nach dem 7. Oktober eine Atombombe auf Gaza eine „Option“ genannt.
Nun hat er angekündigt, seinen Posten als Minister für religiöses und kulturelles Erbe im Kabinett von Netanjahu aufzugeben – aus Protest gegen den Deal, gegen den er in der entscheidenden Kabinettssitzung gestimmt hat. Elijahu braucht die elektronische Verstärkung eigentlich gar nicht, er wäre auch so gut zu verstehen: „Nicht Trump ist an diesem schrecklichen Deal schuld“, schreit er, bebend vor Zorn. „Das sind wir! Wir! Wir!“
Terroristen, sie würden vor den Richtern bald lachen, wenn sie zu lebenslänglich verurteilt würden. „Warum sprengt ihr diese Regierung dann nicht, warum?“, ruft einer aus dem Publikum dazwischen, er hat Tränen im Augenwinkel, vor der Rede von Ben-Eliyahu hatte der Vater eines in Gaza gefallenen Soldaten über seinen Sohn gesprochen. Und der Politiker, ein Mitglied der rechtsextremen Partei Otzma Jehudit von Itamar Ben-Gvir, er ringt in diesem Moment sichtlich um Fassung.
Hier an der Knesset hält eine andere Gruppe von Angehörigen von Geiseln und Gefallenen Mahnwachen, hier treffen sich die Rechten und Nationalreligiösen. Ihr Zelt haben sie schon vor Wochen aufgebaut, doch nun, da der Deal da ist, bei dem mmehr als 1000 verurteilte Palästinenser freikommen könnten im Austausch gegen die 98 Geiseln, die sich lebend oder tot noch immer in der Hand der Hamas befinden, wird diese Gruppe weiter Zulauf bekommen. Drei der Geiseln, alles Frauen, wurden in einem ersten Schritt am Sonntagabend freigelassen.
Zu groß ist im rechten politischen Lager die Angst, dass Israel wieder denselben Fehler begeht wie 2006, als die Hamas im Austausch gegen den israelischen Soldaten unter anderem den Mann freipresste, der dann Chefplaner des 7. Oktober wurde: Jahia Sinwar.

Zu groß die Angst auch vor neuem Raketenterror, wenn der Hamas erlaubt wird, wieder in Gaza zu regieren. Und groß ist natürlich auch bei manchen der Ärger, dass es wohl nichts werden wird mit dem Traum von neuem Siedlungsbau im Gazastreifen. Den Zorn werden die Deal-Gegner später am Abend noch aus dem Zelt und auf die Straßen tragen, Hunderte blockieren am Sonntagabend eine Hauptverkehrsader, als die Polizei eingreifen will, werfen manche Steine.

Kulturzerstörung:Es war einmal in Gaza
Sechs Monate nach Kriegsbeginn zwischen Israel und der Hamas liegen viele Kulturstätten in Trümmern. Die Schäden sind immens, die Schuldfrage ist umstritten – aber es gibt auch ein wenig Hoffnung.
Während in Jerusalem also Benjamin Netanjahu von Leuten aus dem eigenen Lager klargemacht bekommt, dass ihm auch innenpolitisch äußerst schwierige Wochen bevorstehen dürften, laufen in anderen Städten die Vorbereitungen auf die Rückkehr der ersten Geiseln. Sechs Krankenhäuser seien dafür ausgewählt worden, zwei im Süden des Landes und vier in Tel Aviv, erzählt Hagai Levine. Der Professor der Epidemiologie ist Leiter des Gesundheitsteams des „Forums“, einer Gruppe, in dem sich die Familien der Gekidnappten organisiert haben, die für einen Deal geworben haben.
Und wenn die Geiseln in den kommenden 42 Tagen nach und nach dem Roten Kreuz im Gazastreifen übergeben und nach Israel gebracht werden, sollen diese Krankenhäuser besser abgeschirmt werden als das letzte Mal, als Journalisten und auch Politiker in die Gebäude kamen. Als bald die ersten Fotos und Videos in den klassischen und sozialen Medien zu sehen waren. Dass nach Monaten großer Solidarität mit den Opfern und ihren Angehörigen auch das Interesse riesig sein wird, ist Levine bewusst – „doch wir bereiten die Öffentlichkeit darauf vor, dass sie diese Bilder dieses Mal nicht zu sehen bekommt“.
Mediziner rechnen damit, dass bei den Geiseln praktisch jedes Organ geschädigt ist
Und auch sonst habe man seit den letzten Geiselentlassungen und -befreiungen dazugelernt, sagt der Medziner, „aus Patientenakten, aus Gesprächen mit den Überlebenden und leider auch aus den forensischen Berichten nach der Obduktion von getöteten Geiseln“. Das Gesundheitsministerium habe auch in Abstimmung mit dem Forum der Familien einen siebenseitigen Leitfaden erarbeitet und veröffentlicht.
In ihm werden nicht nur Maßnahmen zum Schutz der Privatsphäre der Geiseln und der Angehörigen abgehandelt, sondern auch medizinische Abläufe – und hier stelle man sich auf äußerst herausfordernde Situationen ein. Manche Geiseln dürften 30, manche gar bis zu 50 Prozent ihres Körpergewichts verloren haben, durch den nun schon mehr als 470 Tage andauernden Mangel an Nährstoffen, Vitaminen, UV-Licht und Bewegung sei praktisch wohl jedes Organ geschädigt.
Hinzu kommen innere und äußere Verletzungen, Auswirkungen der schlechten hygienischen Zustände wie entzündete Wunden, Infektionen mit Bakterien und Viren sowie die Folgen von chronischen Vorerkrankungen der Geiseln, die in den Tunneln der Hamas kaum ihre im Alltag benötigten Medikamente bekommen haben dürften. „Wir müssen eine multidimensionale und multidisziplinäre Versorgung garantieren“, sagt Hagai Levine – und will damit sagen: Das israelische Gesundheitssystem wird sein gesamtes medizinisches Arsenal, alle Fachrichtungen auffahren müssen.
Mit Szenen, in denen glückliche Freigelassene ihren Liebsten in die Arme fallen, rechnen Psychiologen eher nicht
Zu den körperlichen Folgen der Geiselhaft kommen die psychologischen. Die Rehabilitationspsychologin Einat Yeheve, die sich für das Forum Geiselangehörigen engagiert, versucht, diese auf schwierige Momente vorzubereiten. Nach dem monatelangen Bangen, ob und in welchem Zustand der geliebte Mensch wiederkommt, wird es nicht nur Enttäuschungen bei denen geben, die weiter warten müssen oder schreckliche Gewissheiten überbracht bekommen. Sondern auch bei denen, die sich doch eigentlich unter den Glücklichen wähnen: „Bei der letzten Freilassung hatten wir Szenen, in denen die Geiseln auf ihre Angehörigen zugelaufen sind und ihnen in die Arme gefallen sind.“ Das werde sich nicht nur wegen des zu erwartenden schlechten körperlichen Zustands in vielen Fällen nicht wiederholen, sondern auch aus emotionaler Überforderung. Neben Orientierungslosigkeit könne die lange Geiselhaft auch zu emotionaler Abwesenheit führen, zu Schwierigkeiten, wieder Verbindung zu anderen Menschen aufzunehmen.
Die Krankenhauszimmer, in denen die Geiseln untergebracht werden, sollen möglichst neutral gestaltet sein, um Reizüberflutungen zu vermeiden. Und Einat Yeheve rechnet damit, dass einige Geiseln dort deutlich länger bleiben werden als die zwei bis drei Tage, die jene dort im Schnitt verbrachten, die im November 2023 nach 54 Tagen Geiselhaft freikamen. Ängste vor der vertrauten Umgebung, die emotional überfordernd sein kann, Ängste vor Albträumen, davor, kein medizinisches Personal in der Nähe zu haben: All das könne dazu führen, dass die paradoxe Situation eintrete, dass die nicht nach Hause wollen, deren Heimkehr sich die Angehörigen doch so sehr ersehnt haben. Und selbst wenn mit der Heimkehr alles gut geht, ist nach einigen Tagen die erste Phase der Euphorie vorbei – und die Befreiten und ihre Familien müssen sich gemeinsam auf den langen und oft frustrierenden Weg der Rehabilitation begehen.
Dass die Haft und das Kriegsgeschehen, Gewalterfahrungen, Folter und sexueller Missbrauch bei den Geiseln Traumata ausgelöst haben werden, dessen sind sich die Spezialisten sicher. Dass viele Geiseln mutmaßlich lange Zeit im Dunklen und isoliert gefangen gehalten wurden, könne sich auf das Sprach- und Kommunikationsverhalten auswirken, bei manchen könnten Sprachtherapien nötig sein, andere müssten nach den Prognosen der Mediziner andere Tätigkeiten in Therapien wieder neu lernen.
Betreuung wird aber auch für die Angehörigen nötig sein, für die die kommenden Tage keine guten Nachrichten bereithalten werden – und auch für manche, die längst um den Tod ihrer Tochter, ihres Sohnes, ihres Elternteils oder Geschwisters wissen. Einige haben ihre Trauer mit Aktivismus betäubt, aber auch auf die von starkem Zusammenhalt und gegenseitiger Unterstützung geprägte Gruppe der Angehörigen sieht Yeheve Schwierigkeiten zukommen. „Die Angehörigen der Heimkehrer werden alle auf einen Schlag zu Pflegenden, die damit beschäftigt sind, ihre Liebsten zu versorgen“, sagt Einat Yeheve – weiter solidarisch zu sein und sich wie bisher zu engagieren, werde da schon zeitlich und logistisch schwierig.
Während sich die Protestbewegung gegen den Deal gerade erst so richtig formiert, könnte die derjenigen, die mehr als 470 Tage auf ihn gewartet haben, nun zerfallen.