Süddeutsche Zeitung

Naher Osten:Wenn Staaten scheitern

  • Al-Qaida und die Terrormiliz Islamischer Staat stellen die alten Grenzen und die Autorität der Regierungen im Nahen Osten infrage.
  • Das Gewaltmonopol des Staates, Grundpfeiler jeder legitimen innerstaatlichen Ordnung, erodiert.
  • Externe Akteure spielen dabei eine zentrale Rolle - neben Russen und Iranern auch der Westen.
  • Allerdings wäre es naiv, den Westen allein für den Staatszerfall verantwortlich zu machen.

Kommentar von Paul-Anton Krüger

Ägyptens Luftwaffe bombardiert Dschihadisten in Libyen, iranische Revolutionsgardisten und Kampfjets attackieren die Terrormiliz Islamischer Staat im Irak, die Türkei evakuiert per Panzerkonvoi ein Mausoleum in Syrien. Nicht zuletzt kämpft eine internationale Allianz aus mehr als 60 westlichen und arabischen Staaten im Irak und in Syrien gegen die Schergen des Kalifats des selbsternannten Emirs Abu Bakr al-Bagdadi. Kurdische Einheiten aus Syrien, dem Irak und der Türkei drängen derweil die Steinzeit-Islamisten in Syrien zurück.

Nationalstaaten, Grenzen und territoriale Integrität als definierende Elemente der internationalen Ordnung entfalten in Teilen der arabischen Welt und der Nachbarschaft kaum noch Bindungskraft. Das Gewaltmonopol des Staates, Grundpfeiler jeder legitimen innerstaatlichen Ordnung, erodiert. Im Irak und in Syrien ist der Zerfall weit fortgeschritten, Libyen und Jemen drohen ebenfalls in den Strudel gerissen zu werden, Libanon taumelt zwischen scheinbarer Stabilität und Gewaltausbrüchen, in Ägypten ist die Armee im Nordsinai nicht Herr der Lage.

Herausgefordert werden diese schwachen oder scheiternden Staaten von einer Vielzahl nichtstaatlicher Akteure - die jedoch über Gewaltmittel verfügen, die einst Staaten vorbehalten sein sollten. Es sind Terror-Organisationen und verschiedenste Milizen, die im Machtvakuum zwischen Bagdad und Damaskus, Sanaa und Tripolis die Bedingungen finden, unter denen sie florieren. Die gefährlichsten Gruppen sind Mischformen aus Terrorvereinigung und Miliz, wie manche Filialen al-Qaidas, vor allem aber der Islamische Staat: Er will alle rechtgläubigen Muslime in einem Kalifat vereinen und verfolgt damit ein expansionistisches ideologisches Projekt, das auf die Überwindung und Zerstörung der Nationalstaaten abzielt.

Neue, gewaltbereite Akteure stellen alle Grenzen infrage

Erleichtert wird diesen Akteuren ihr Geschäft, weil die europäischen Kolonialherren in der Region einst Grenzen nach Gutdünken zogen. Zugehörigkeiten zu Religion, Ethnie oder Stamm ließen sie außer Acht. Mangels nationaler Identitäten dienen diese heute als Anknüpfungspunkte: Schiiten kämpfen gegen Sunniten, Muslime gegen Christen, Kurden gegen Araber, Stämme aus Tripolitanien gegen solche aus der Cyrenaika.

Entscheidend beigetragen zur Malaise haben externe Akteure: Russen und Iraner, die Golfmonarchien - nicht zuletzt der Westen. Die US-Invasion im Irak entfesselte al-Qaida und trug zum Entstehen des Islamischen Staates bei. Die Intervention der Nato in Libyen brachte den Sturz des Tyrannen Gaddafi wie den Sieg konkurrierender Milizen. Die jahrzehntelange Unterstützung autoritärer Herrscher trug dazu bei, Staaten und Gesellschaften in der Region so auszuhöhlen, dass sie mit Ausnahme Tunesiens den Zentrifugalkräften wenig entgegenzusetzen haben.

Es wäre jedoch sträflich naiv, die Fehler des Westens für die alleinigen Ursachen des Staatszerfalls zu halten: Libyen hatte beste Voraussetzungen, eine legitime Ordnung und Wohlstand für seine Bürger zu schaffen. Und wäre Gaddafi nicht gestürzt worden, was wäre die Folge gewesen? Ein Gemetzel mit Zehntausenden Toten, wie Baschar al-Assad es in Syrien angerichtet hat? Im Irak hat die schiitisch dominierte Regierung jahrelang mit tatkräftiger Unterstützung Teherans die Sunniten derart bedrängt, dass ihnen der Islamische Staat als kleineres Übel galt. Iran und Russland halten Assads Regime am Leben - im Kampf gegen den Islamischen Staat gilt er manchen schon als das geringere Übel.

Die Dschihadisten haben einen totalitären Anspruch

Es gibt keine singulären Ursachen für die Krisen in der arabischen Welt - und auch keine einfachen Lösungen. Der gern beklagte Mangel an Strategie im Westen ist auch Ausdruck der Ratlosigkeit angesichts der Komplexität und schwindender Einflussmöglichkeiten. Hoffnung auf Fortschritte gibt es am ehesten dort, wo Verteilungskonflikte um Ressourcen und Macht den Krisen zugrunde liegen: in Libyen und Jemen, vielleicht im Irak.

Die Dschihadisten des Islamischen Staats entziehen sich dieser Logik: Ihr Projekt hat einen absoluten, einen totalitären Anspruch. Menschenleben bedeuten für sie nichts - sie setzen darauf, durch monströse Zivilisationsbrüche unüberlegte Reaktionen zu provozieren und ein apokalyptisches Chaos zu entfesseln. Sie glauben, daraus als Sieger hervorzugehen.

Es wird einen Mix aus politischen, wirtschaftlichen und militärischen Ansätzen brauchen - und vor allem langen Atem und überlegtes Handeln, um dem etwas entgegenzusetzen. Mit schnellen Erfolgen kann man nicht rechnen. Die Region steht vor einem finsteren Jahrzehnt. Europa aber wird sich nicht abwenden oder immunisieren können gegen die Bedrohung, die hier heranwächst, Charlie Hebdo und Kopenhagen sind Belege dafür.

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SZ vom 24.02.2015/kjan
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