Zu Israel ist in Deutschland ein enges Verhältnis gewachsen, das außer der schwierigen Aufarbeitung der vom Holocaust verdunkelten Geschichte auch von vielen persönlichen Begegnungen geprägt ist: von Schüleraustauschen, Städtepartnerschaften und gemeinsamen kulturellen Veranstaltungen.
Ganz anders sieht es mit den Palästinensern aus - einst wurde ihr Befreiungskampf, inklusive terroristischer Mittel, von einer europäischen Linken glorifiziert; heute gibt es im besten Falle noch etwas Mitleid. Aber man kennt sie kaum, die palästinensische Gesellschaft. Oftmals stehen nicht nur sie selbst, sondern auch jene, die mit ihr verbunden sind und ihre Perspektiven erklären wollen, unter Generalverdacht. So wurde etwa im Mai dieses Jahres die angesehene Politikwissenschaftlerin Helga Baumgarten nach ihren Ausführungen zur palästinensischen Perspektive auf den jüngsten Gazakrieg in einem ZDF-Interview von der Bild-Zeitung als "Hamas-Helga" diffamiert.
Die Nahostexpertin Muriel Asseburg tritt mit ihrem neuen Buch an, um der Unkenntnis zu begegnen. Asseburg gehört zu den wenigen in Deutschland, die seit vielen Jahren zur palästinensischen Politik forscht und ihre Protagonisten aus erster Hand kennt. Sie will die Palästinenser als "Handelnde in ihrer eigenen Geschichte" hervorheben und Klischees beseitigen. Das tut sie auf etwa 250 Seiten, auf denen sie äußerst kompetent und nuanciert die leidvolle Geschichte der Palästinenser schildert.
Das Thema ist emotional, die Analyse ist nüchtern
Die nüchterne, klare Analyse des Textes steht im wohltuenden Gegensatz zur emotionalen Aufgeladenheit des Themas gerade in Deutschland. Besonders bei umstrittenen Themen wie den Jahren des bewaffneten Kampfs, des sogenannten "Sechstagekrieges" oder der Hamas-Bewegung gelingt es Asseburg, die für die Stiftung Wissenschaft und Politik arbeitet, den richtigen Ton zu treffen: Sie macht innerpalästinensische Perspektiven deutlich, ohne je apologetisch zu sein. Keinen Zweifel lässt sie daran, dass die Palästinenser zuerst nicht Opfer, sondern Akteure sind - ebenso wenig Zweifel aber auch daran, dass sie seit der "Nakba", den Vertreibungen im Jahre 1948 und angesichts der anhaltenden Besatzung ihres Landes, kaum eine Chance hatten, ihr Schicksal selbst zu bestimmen. Die Bilanz der diversen Ansätze im Friedensprozess ist ernüchternd, die Aussichten sind düster. In den beiden Schlusskapiteln ordnet sie die Debatten um alternative Lösungen zur Zweistaatenlösung ein. Dabei gelingt es ihr auch, die Hintergründe der Debatte um die internationale BDS-Bewegung ("Boykott, Desinvestitionen, Sanktionen") sachlich zu erklären.
Ergänzt wird die Darstellung um zehn Porträts berühmter Palästinenserinnen und Palästinenser und einen umfangreichen Anhang mit wissenschaftlicher Literatur und, besonders verdienstvoll, einer Übersicht palästinensischer Literatur und Filme. Diese erzählen bisweilen mehr über die palästinensische Gesellschaft als komplexe politischen Analysen. Auch in der Darstellung hätten noch mehr Informationen zu Kunst, Kultur, Alltag, Protest und Generationenwechsel der palästinensischen Gesellschaft den Text bereichern können, der sich im Wesentlichen auf die politische Geschichte beschränkt.
In deutscher Sprache lag als Überblick bisher nur die "Geschichte Palästinas" bis 1948 der Berliner Islamwissenschaftlerin Gudrun Krämer vor, dessen Fortsetzung Muriel Asseburgs im gleichen Verlag erschienenes Buch gewissermaßen ist. Es schließt damit eine wichtige Lücke und ist Standardwerk für all jene, die sich über die jüngere Geschichte der Palästinenser informieren wollen.
René Wildangel ist Historiker und schreibt unter anderem zum Schwerpunkt Naher/Mittlerer Osten.