Nachträgliche Sicherungsverwahrung:Wenn Gutachter irren

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Einer sitzt zu Recht, 20 sitzen zu Unrecht: In der aktuellen Diskussion gilt jede einzelne Sicherungsverwahrung als Verhinderung einer schweren Straftat. Eine neue Studie kommt zu einem völlig anderen Schluss - und verdammt die Haft nach der Haft.

Heribert Prantl

Die nachträgliche Sicherungsverwahrung ist ein "rechtsstaatliches und kriminalpolitisches Debakel": Dies ist das Ergebnis einer soeben unter diesem Titel erschienenen wissenschaftlichen Studie des Juristen Michael Alex. Die Analyse des 60-jährigen Strafvollzugsexperten, der unter anderem eine sozialtherapeutische Anstalt geleitet hat, wurde von der Universität Bochum als Doktorarbeit angenommen. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass ein Großteil der Prognosen über die Gefährlichkeit von Tätern nicht stimmt. Diese Prognosen sind aber die Grundlage dafür, Straftäter nach Ablauf der Strafhaft in Haft zu behalten.

Eine aktuelle Studie kommt zu dem Schluss: Die nachträgliche Sicherungsverwahrung ist ein "rechtsstaatliches und kriminalpolitisches Debakel. (Foto: dpa)

Der Wissenschaftler untersucht 77 Fälle in ganz Deutschland, bei denen die Staatsanwaltschaft nachträgliche Sicherungsverwahrung beantragt hatte, die dann aber von den Gerichten nicht genehmigt wurde; die Häftlinge kamen in Freiheit.

Alle Anträge waren mit Gutachten untermauert gewesen, in denen dem Täter jeweils höchste Gefährlichkeit attestiert wurde. Alex hatte so die Möglichkeit, die reale Rückfälligkeit zu untersuchen - eine Untersuchung, die man naturgemäß bei den Häftlingen, die in Sicherungsverwahrung genommen werden, nicht machen kann.

In der aktuellen Diskussion gilt jede einzelne Sicherungsverwahrung als Verhinderung einer schweren Straftat. Das Ergebnis der Alex-Studie lässt einen solchen Schluss nicht zu: Nur bei vier der entlassenen Straftäter (fünfProzent) kam es zu einer neuerlichen Verurteilung wegen Raub- oder Sexualdelikten.

Bei 27 Entlassenen (35 Prozent) wurden kleinere Delikte registriert. Insgesamt lag die Rückfallhäufigkeit unter dem allgemeinen Schnitt bei Haftentlassungen. Der größte Teil der Gutachter lag also falsch. Es gibt zwei Erklärungen. Erstens: Die Gutachter entscheiden im Zweifel gegen den Häftling, um sich nicht später Vorwürfe machen lassen zu müssen. Zweitens: Es gibt langjährige Kooperationen zwischen Staatsanwaltschaften und Gutachtern. Der Staatsanwalt weiß, welcher Gutachter eher in seinem Sinne entscheidet; und der Gutachter hat einen guten Nebenverdienst. Eine Lösung des Problems könnte sein, dass man die Prognose einem Team von zwei oder drei Gutachtern überträgt.

Die Studie von Alex kommt zu dem Ergebnis, dass die Identifizierung gefährlicher Wiederholungstäter nur "auf Kosten einer großen Zahl von ungefährlichen Menschen gelingt". Kurz gesagt: Einer sitzt zu Recht, 20 sitzen zu Unrecht wegen falscher Gutachten. In der Wissenschaft wird der Studie vorgeworfen, der Beobachtungszeitraum nach der Entlassung (im Schnitt drei Jahre) sei zu kurz gewesen. Der Bochumer Kriminologe Thomas Feltes argumentiert dagegen: Die Rückfallwahrscheinlichkeit sei nach sechs bis zwölf Monaten am höchsten.

Christian Pfeiffer, Kriminologe in Hannover, meint, dass sich die Politik mit der Debatte über die Sicherungsverwahrung selbst unter unguten Handlungsdruck gesetzt habe. Dabei sage einem der gesunde Menschenverstand, dass ein 70-jähriger Entlassener nach 20 oder 30 Jahren Haft "kaum noch die Dynamik aufbringt, schwere Straftaten zu begehen". Zudem zeige die Kriminalstatistik, dass mit wachsendem Alter das Risiko schwerer Straftaten abnehme.

© SZ vom 02.01.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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