Nachruf:Staatsdiener und Staatsdenker

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Zum Tod von Horst Herold: Er war Chef des Bundeskriminalamts im Deutschen Herbst, er war der Feldherr im Kampf gegen die RAF - und er war, wie er selbst zartbitter sagte, ihr letzter Gefangener.

Von Heribert Prantl

„Kommissar Computer“: Horst Herold, BKA-Präsident von 1971 bis 1981. Er erfand die Rasterfahndung. (Foto: Werek/SZ Photo)

Google könnte auch Herold heißen. Herold, Horst Herold, nämlich hat ein System à la Google erfunden, lang bevor es Google gab. Er war wohl der genialste Polizist, den Deutschland je hatte. Er war der Prometheus der deutschen Polizei: Er brachte ihr den Computer. Aber er war, angeblich, computerwahnsinnig. Er erkannte nämlich die Möglichkeiten der elektronischen Datenverarbeitung ganz früh, viel zu früh, schon zu einem Zeitpunkt, als die Jungunternehmer, die später mit Informatik Milliarden verdienten, noch nicht einmal geboren waren.

Dreißig Jahre bevor Google auf dem Markt war, hatte er sein Computer-Such-System für die Polizei schon installiert. Es hieß Inpol. Dort fasste Horst Herold, Präsident des Bundeskriminalamts von 1971 bis 1981, alle im Bundesgebiet anfallenden kriminalistischen Erkenntnisse zusammen: So gelang ihm 1972 die Verhaftung von Ulrike Meinhof und Andreas Baader, so zerschlug er den Kern der ersten Generation der RAF, so klärte er die Entführung des Berliner CDU-Vorsitzenden Peter Lorenz auf, so konnte er nach der Ermordung seines Freundes, des Generalbundesanwalts Siegfried Buback, etliche Täter fassen.

Horst Herold, gelernter Staatsanwalt und Ex-Polizeipräsident von Nürnberg, war ein unglaublich erfolgreicher Kriminalist. Er machte aus dem Bundeskriminalamt, das zuvor eine Kriminalklitsche war, eine Hightech-Behörde, eine Bundeskriminalakademie, eine weltweit anerkannte kriminalistische Universität mit Fakultäten für Terrorismusanalyse, Spurensicherung und Sachbeweise. Hier entwickelte er seine Methoden zur rechnergestützten Spracherkennung und Auswertung von Handschriften; was damals bei ihm "Sozialkybernetik" hieß und vielen suspekt erschien, heißt heute "Profiling" und ist für eine erfolgreiche Fahndung unverzichtbar. Im BKA in Wiesbaden war Herold der Feldherr der Bundesregierung im Kampf gegen die RAF. Mit seiner ausgeklügelten Rasterfahndung und einem klaren Fahndungskonzept war er 1977 den Entführern des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer auf der Spur.

Sofort nach dessen Entführung in Köln ordnete er eine Ringfahndung an, 20 Kilometer um die Stätte des Verbrechens herum. Im Halbkreis zwischen dem westlichen Rheinufer und der Fahndungsgrenze ließ er, auf der Suche nach dem Versteck Schleyers, jedes Hochhaus nach verdächtigen Mietern ausforschen. Lastwagen schafften die damals ungetümgroßen Geräte für die Datenverarbeitung heran. 15 Computer ließ er mit 70 000 Hinweisen füttern. Ein Polizeibeamter überprüfte die Bewohner eines Mietshauses in Erfstadt/Liblar, 19 Kilometer vom Tatort entfernt. Der Vermieter machte diesen auf eine gewisse Annerose Lottmann-Bücklers aufmerksam: Sie habe bei der Anmietung 600 Mark bar bezahlt, in der Handtasche sei noch ein ganzes Bündel Geldscheine gewesen. Über diese Mieterin waren in Herolds Computern bereits umfangreiche Erkenntnisse gespeichert.

Die Daten aus Erfstadt/Liblar wurden abgeglichen - und es glückte das Unglaubliche: Schleyer wurde in einem Überraschungsangriff aus dem "Volksgefängnis" im Mietshaus am Renngraben 8 befreit, zwei Terroristen an Ort und Stelle, ein Dutzend weitere in den nächsten Tagen verhaftet. Horst Herold wurde zum Volkshelden und im Triumphzug durch Bonn gefahren, Bundeskanzler Helmut Schmidt heftete ihm den höchsten Orden der Republik an die Brust. Das von Herold entwickelte Fahndungssystem wurde nun weltweit zum Vorbild. Herold war nicht nur berühmt, sondern wurde unglaublich populär. Aus dem Computer-Kommissar wurde der erste Schutzmann des Landes. Und als 1979 Bundespräsident Walter Scheel auf eine zweite Amtszeit verzichtete, wurde er von allen Parteien gebeten, sich als erster Mann des Staates, als Bundespräsident, zur Verfügung zu stellen.

Aus dem Großpolizisten wurde ein Kriminalphilosoph in der Lehmgrube

Das ist Fiktion. So hätte es sein können, so war es aber nicht. In Wahrheit war es ganz anders: Bundespräsident wurde 1979 Karl Carstens von der CDU - und Herold wurde, nach heftigen Anfeindungen, mit knapp 58 Jahren für "dienstunfähig" erklärt und in den Ruhestand geschickt. Warum? Einer furchtbaren Panne wegen: Die entscheidenden Daten aus Erfstadt/Liblar waren damals nicht in die Computer eingegeben worden, das Fernschreiben mit dem Hinweis auf die verdächtige Mieterin war irgendwo verloren gegangen; die perfekt ausgeklügelte kriminalistische Technik des Horst Herold war an menschlichem Versagen gescheitert. Schleyer wurde nicht befreit, sondern 43 Tage nach der Entführung, erschossen im Kofferraum eines in Mühlhausen/Frankreich abgestellten Autos gefunden. Herolds Fahndungsmethoden gerieten in Misskredit, der Mann selbst auch. Er hatte keinen politischen Kredit mehr. Die Welle der Kritik an seinen angeblich Orwell'schen Methoden schlug über ihm zusammen. Aus Herold wurde kein Volksheld, sondern ein vorzeitig in Ruhestand geschickter Beamter und der, wie er später selbst zartbitter formulierte, "letzte Gefangene der RAF".

Wo sollte er hin? Er war der gefährdetste Mann der Republik. Wo war er einigermaßen sicher? Der Staat wies ihm ein Grundstücklein in einer Ecke der Grenzschutz-Kaserne von Rosenheim zu. Nirgendwo anders wollte er seinen außer Dienst gestellten Diener bewachen - nicht im Herold'schen Privathaus in Nürnberg, auch nicht in einer staatlichen Dienstwohnung; der Mann war ja schließlich nicht mehr im Dienst. Der Staat hat sich die schützende "Lehmgrube", wie Herold das Areal in der Ecke der Kaserne nannte, teuer abkaufen lassen. Herold verscherbelte sein Privathaus, um sich vom Erlös in aller Eile ein Fertighaus in der Lehmgrube bauen zu lassen. Der BKA-Präsident Herold war der Ministerialbürokratie zu mächtig gewesen. Jetzt ließ die Bürokratie den Pensionär Herold ihre Macht spüren. Aber was blieb dem Mann anderes übrig? In dem Haus an der Kaserne lebte er dreißig Jahre lang, bis 2017 - zuletzt weniger aus Gefährdungs- als aus Gewohnheitsgründen.

Hier verbunkerte sich der Mann zusammen mit seiner Frau vor den Anschlägen der RAF, hier versteckte er sich vor der Öffentlichkeit, hier wehrte er Interviewer und Dokumentarfilmer ab, hier war er aber auch, wenn es seinen Freunden gelang, die Mauern zu überwinden, ein liebenswürdiger Gastgeber; hier saß ihm in schlaflosen Nächten der tote Hanns Martin Schleyer auf der Brust, hier war er mit sich, seiner Frau, den Soldaten der Kaserne und seinen Erinnerungen allein; hier war er ein Exilant im eigenen Land. Hier verbannte er alle Relikte, Requisiten und Archivalien aus der RAF-Zeit in den Keller; aber er hatte ohnehin fast alles im Kopf. Kurz vor seinem 94. Geburtstag, nach dem Tod seiner Frau, die er jahrelang hingebungsvoll gepflegt hatte, zog er wieder in seine Heimatstadt Nürnberg, in eine schöne Altbauwohnung. Es war seine Aktion Heimkehr.

In den Jahren nach seiner Zwangspensionierung glaubte er, dadurch seine Ehre verloren zu haben, und er versuchte verbissen und akribisch, sie in Prozessen gegen Falschzitierer, Professoren, Publizisten und Politiker zurückzugewinnen, gegen alle, die ihn als datensüchtig, als Mischung aus Big Brother und Daten-Dracula darstellten. Viele Prozesse hat er geführt, fast alle erfolgreich. Vielleicht halfen ihm die Prozesse, nicht krank oder verrückt zu werden; er wurde nur melancholisch, aber später vertrieb das Internet die Melancholie immer öfter; und staunend genoss er, wie das Web gedieh. Google war ihm der Beweis, dass seine Ideen keine Spinnereien gewesen waren: Exakt so hatte er sein polizeiliches Intranet geplant.

Herold in seiner aktiven Zeit galt so manchen beinahe als Marxist, weil er die marxistischen Methoden kannte und sie für kriminalistische Zwecke genutzt hatte. Er fand den Schlüssel zur Fahndung gegen Meinhof & Co. in deren Schriften, aus denen er die Bekämpfungsmethoden destillierte: Die Rasterfahndung hat daher nicht nur Herold zum Vater, sondern auch Ulrike Meinhof als Mutter. Er hat Meinhofs schriftliche Anleitungen zum bewaffneten Kampf, die vom damaligen RAF-Ideologen und heutigen Rechtsextremisten Horst Mahler verfeinert wurden, als Vorlage genommen, um daraus die Kriterien für die Rasterfahndung zu entwickeln.

Seine Nachfolger hat er mit öffentlichen Ratschlägen verschont, auch wenn die Erfolglosigkeit der Fahndungen ihn umtrieb - seit 1985 wurde kein RAF-Mord mehr aufgeklärt. Herolds Nachnachfolger Hans-Ludwig Zachert gestand, man habe die RAF "vom Radarschirm verloren". Aber Herold kritisierte nicht, er äußerste sich viele Jahre lang gar nicht, und später nur selten und stets loyal: Seine Nachfolger hätten es eben viel schwerer als er, die Terroristen hätten gelernt.

In den dreißig Jahren als Pensionist, die den aktiven dreißig Jahren folgten, wurde er ein Kriminalphilosoph, ein freundlicher Weltverbesserer, der über die Ursachen von Terror tiefgründig nachdachte. Hätte es noch andere Wege gegeben, darauf zu reagieren - andere Wege als fahnden, verhaften, einsperren? Was wäre gewesen, wenn es eine Versöhnungsinitiative wie die des damaligen Justizministers Klaus Kinkel nicht erst 1992 gegeben hätte?

In seinen späteren Rosenheimer Jahren verabredete sich Herold alle paar Monate mit dem Münchner Ex-Polizeipräsidenten Manfred Schreiber im Münchner Spatenhaus, links hinten am Tisch in der Nische. Auf der Speisekarte stand gefüllter Kalbsbraten und auf der Tagesordnung die innere Sicherheit. Schreiber trieb bei dieser Gelegenheit seinen Freund Herold mit Fragen und Sticheleien zu kriminalistischen Höhenflügen; und er nahm ihn, dann und wann auch ein wenig auf den Arm. Dann lachten die beiden wie die Buben. Diesen kleinen Stammtisch gibt es lange nicht mehr. Schreiber ist im Mai 2015 gestorben. Jetzt folgte ihm sein Freund. Horst Herold ist am Morgen des 14. Dezember in Nürnberg gestorben, ein paar Wochen nach seinem 95. Geburtstag.

© SZ vom 15.12.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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