Nachruf auf Marian Turski:„Seid nicht gleichgültig“

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Marian Turski im August 2024. Vor drei Wochen sprach er noch zum 80. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz, politisch und pointiert. (Foto: picture alliance/dpa/PAP)

Der Präsident des Internationalen Auschwitz-Komitees ist mit 98 Jahren gestorben. Marian Turski war nicht nur ein Zeitzeuge des Holocaust, sondern auch immer ein wachsamer politischer Beobachter.

Von Viktoria Großmann, Warschau

Am 27. Januar, dem internationalen Holocaust-Gedenktag, trat Marian Turski zum letzten Mal öffentlich auf. Auf zwei Krücken gestützt kämpfte sich der 98-Jährige zur Bühne. Turski war ein pointierter Redner, ein Journalist, einer, der viel zu erzählen hatte und doch wenig von sich selbst sprach. Dass er bei dieser und anderen Gedenkfeiern zuerst das Wort ergriff, lag daran, dass er Präsident des Internationalen Auschwitz-Komitees war.

80 Jahre zuvor war das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz von sowjetischen Rotarmisten befreit worden. Turski war im Alter von 18 Jahren in dieses Lager deportiert worden. Sein Rednerpult stand nun vor dem aus Ziegeln gemauerten Eisenbahntor von Birkenau, das Hunderttausende Menschen eingesperrt in Viehwaggons passiert hatten. Dahinter wartete auf sie die Rampe, die meisten Menschen wurden von den deutschen SS-Leuten sofort in die Gaskammern geschickt und ermordet. Darunter Turskis Eltern und sein sechs Jahre jüngerer Bruder.

„Wir Überlebenden waren immer sehr wenige“

„Wir Überlebenden waren immer sehr wenige“, sagte Turski vor vier Wochen. „Heute sind wir noch eine Handvoll.“ Turskis Nachredner waren 85, 86 und 99 Jahre alt. Noch nie waren so viele Gäste aus aller Welt zum Gedenken an die Befreiung des Lagers angereist – denn allen ist bewusst, die Zeit raubt unbarmherzig die letzten Zeitzeugen.

Turski war in Polen nicht nur als Holocaust-Überlebender bekannt. Er war Historiker, langjähriger Redakteur und später Herausgeber der Wochenzeitung Polityka. Geboren wurde er als Mosze Turbowicz 1926 im heutigen Litauen; in der Großstadt Łódź, südwestlich von Warschau wuchs er auf, sprach Polnisch und Hebräisch. Und später auch sehr gut Englisch. Die deutschen Besatzer sperrten die Familie 1940 ins sogenannte Ghetto Litzmannstadt. Turski engagierte sich im Untergrund, 1944 wurde die Familie deportiert. Die Befreiung erlebte Turski erst im Mai 1945, nachdem er einen Todesmarsch überlebt hatte, weiter ins KZ Buchenwald und von dort nach Theresienstadt deportiert worden war.

Turski kehrte nach Polen zurück, zunächst nach Breslau, 1949 zog er nach Warschau, das von den Deutschen völlig zerstört worden war und neu erbaut werden musste. Erst viele Jahrzehnte nach dem Krieg und nach dem Ende des kommunistischen Regimes sollte auch dank Turski noch eine Erinnerungslücke gefüllt werden: Im April 2013 eröffnete das Museum POLIN. Es erzählt die Geschichte der Juden in Polen. Das Gebäude entstand am Mahnmal für die Helden des Warschauer Ghettos, die sich im April 1943 gegen die Deutschen erhoben hatten. Als Historiker und Mitglied des Jüdischen Historischen Instituts hatte sich Turski für die Entstehung des Museums eingesetzt.

„Auschwitz ist nicht vom Himmel gefallen“

Dass die rechtsnationalistische PiS-Partei in ihrer Regierungszeit dem Museum hineinreden, Leitungspersonal austauschen wollte, ging Turski entschieden gegen den Strich. Anders als die PiS-Regierung war Turski außerdem sehr wohl an einer Annäherung an die Deutschen und an einer Verständigung gelegen. Es sei im Interesse Polens, zwischen freundlichen Nachbarn zu leben, sagte er einmal zur SZ.

„Seid nicht gleichgültig“, das ist einer der Sätze, die von Turski in Erinnerung bleiben werden. Der andere lautet: „Auschwitz ist nicht vom Himmel gefallen.“ Beide stammen nicht von ihm, wie er auch immer sagte. Aber er strickte kunstvoll seine Reden um sie herum, gab ihnen Bedeutung. Der erste Satz stammte von seinem Freund Roman Kent, vor ihm Präsident des Auschwitz-Komitees. Der andere vom österreichischen Bundespräsidenten Alexander Van der Bellen. Turski war eben ein guter Zuhörer.

Warum Auschwitz nicht vom Himmel gefallen sei und wie all die Taten aussahen, die zum Holocaust führten, das sezierte Turski anhand des Zitats Van der Bellens. Fazit: „Seid nicht gleichgültig, wenn ihr seht, dass die Vergangenheit für aktuelle politische Zwecke missbraucht wird. Seid nicht gleichgültig, wenn irgendeine Minderheit diskriminiert wird.“ So seine Worte zum 75. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz vor fünf Jahren.

Im Gespräch mit der SZ sagte Turski einmal: „Die Leute sagen immer, ich soll erzählen, ich sei doch ein Zeitzeuge“, so der damals 96-Jährige. „Dann sage ich: Ihr seid auch Zeugen eurer Zeit.“

Marian Turski ist am Dienstag im Alter von 98 Jahren in Warschau gestorben.

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