Nachruf:Der Grundgesetzliche

Nachruf: Ernst-Wolfgang Böckenförde, der Einstein des Staatsrechts.

Ernst-Wolfgang Böckenförde, der Einstein des Staatsrechts.

(Foto: Rolf Haid/dpa)

Ernst-Wolfgang Böckenförde, der große Rechtsgelehrte, ist gestorben. Ein berühmter Satz von ihm aber hat das ewige Leben.

Von Heribert Prantl

Nein, "den Juristen" gibt es nicht. Man trifft unter dieser Berufsbezeichnung die unterschiedlichsten Charaktere und Gestalten. Man trifft Schauspieler, Schaumschläger und Aktenhengste, man trifft Paragrafenkünstler, Paragrafenbastler und Paragrafenreiter, man trifft den Macher und den Schlamper, man trifft die scharfsinnigsten und die schludrigsten Denker.

Im Nachdenken über den juristischen Idealtypus stößt man mit einiger Sicherheit auf Ernst-Wolfgang Böckenförde. So einer wie Böckenförde ist nicht konservativ und nicht progressiv, nicht liberal und nicht autoritär; er ist einfach gescheit. Er protzt nicht mit seiner Gescheitheit; er ist auf liebenswürdige Weise bescheiden - aber brillant, wenn es darauf ankommt. Als Bundesverfassungsrichter (von 1983 bis 1996) erlebte ihn das Publikum nur als eines von acht Mitgliedern des Zweiten Senats. Gleichwohl war er ein Solitär.

Er war einer der großen Richter und Denker dieser Zeit: Ein gläubiger Katholik, 52 Jahre lang Sozialdemokrat, einer, für den die Kirche ein unverzichtbarer Ort der Wertebildung und Wertevermittlung war. Zum 80. Geburtstag nannte ihn diese Zeitung den "Einstein des Staatsrechts" - weil er einen Satz prägte, der das ewige Leben hat: "Der freiheitliche, säkularisierte Rechtsstaat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann." Man nennt diesen Satz das "Böckenförde-Diktum". Es ist das E = mc² der Staatsrechtslehre.

Helmut Kerscher, der langjährige Korrespondent der Süddeutschen Zeitung in Karlsruhe, hat Böckenförde so beschrieben: "In den Verhandlungen zählten seine häufigen Wortmeldungen zu den Höhepunkten - fast immer begleitet von einem Stirnrunzeln, oft auch vom charakteristischen Vorschieben des Unterkiefers, gelegentlich von einem fast kindlich-fröhlichen Triumphblick in die Runde. Wenn seine knarrende Stimme aus den Lautsprechern tönte, horchten auch müde gewordene Zuhörer auf." Es war zu spüren, dass dieser auf eine liebenswürdige Weise altmodisch erscheinende Mann "bei der Suche nach ethischer Geborgenheit nicht auf den Gedanken der Nation, als vielmehr auf die Formkraft der Idee der Menschenrechte vertraut". Jutta Limbach, die verstorbene Präsidentin des höchsten deutschen Gerichts, hat dies einst über ihren Kollegen gesagt.

In einer kleinen Schrift hat Böckenförde benannt, "was den Juristen vom beliebig verfügbaren Rechtstechniker, der zum Fachidioten wird, unterscheidet" - es ist ein Anspruch: Ein Jurist weist, indem er nach dem Recht sucht, es gestaltet und es anwendet, die Träger der Macht in die Grenzen. Das hat Böckenförde getan. Schon als ganz junger Jurist hat er die kirchliche Macht in die Schranken gewiesen: Er war im Nachkriegsdeutschland, als die Bischöfe noch Wahlempfehlungen abgaben, der Erste, der der Amtskirche beschied, dass sie sich "aus den Auseinandersetzungen der politischen Gruppen so weit als nur möglich herauszuhalten" habe. Es war ein Erlebnis, es war ein Fest, es war eine Herausforderung, mit Böckenförde zu diskutieren.

Er überforderte das Recht nicht, aber er forderte viel von den Juristen: Er selbst suchte in geistiger Unabhängigkeit nach dem Gemeinwohl - in seinen Urteilen und Sondervoten zum Abtreibungsrecht, zur Vermögensteuer, zur Parteienfinanzierung, zum Asylrecht. Als sein Senat bei der Vermögen- und Erbschaftsteuer den Halbteilungsgrundsatz erfand, wonach dem Erben mindestens die Hälfte des Vermögens belassen werden müsse und die Vermögensteuer so niedrig zu bemessen sei, dass man sie aus dem Ertrag des Vermögens bezahlen könne, kritisierte er das scharf: So werden, sagte er, Vermögen geschont, während Löhne und Gehälter immer stärker belastet werden. Das war 1995. Nach seinem Ausscheiden als Verfassungsrichter, als der Raubtierkapitalismus immer schärfer wurde, wurde es seine Kritik auch: "Die Ungleichheit darf ein gewisses Maß nicht überschreiten."

Böckenförde wurde in Kassel als eines von acht Kindern geboren; sein Vater war Forstmeister. Er wurde Professor für Öffentliches Recht, Rechtsgeschichte, Verfassungsgeschichte und Rechtsphilosophie in Heidelberg, Bielefeld und Freiburg. Der Schriftsteller Bernhard Schlink, der Staatsrechtler Joachim Wieland und der Verfassungsrichter Johannes Masing zählen zu seinen Schülern. Sein Faible für Carl Schmitt, den Staatslehrer, der in der Nazi-Zeit eine so fatale Rolle spielte, hat auch vielen Bewunderern Böckenfördes immer wieder Rätsel aufgegeben.

Der politischen Führungsschicht warf Böckenförde zuletzt vor, sie habe nicht mehr die Kraft zu repräsentativem Handeln, stelle dem Bürger keine wirklichen Fragen mehr, sondern lasse sie vorab von Meinungsforschern beantworten. Bewusstsein für gemeinsame Verantwortung könne sich so nicht entfalten.

Am Sonntag ist der Rechtsdenker im Alter von 88 Jahren nach längerer Gebrechlichkeit gestorben. Er lebte zuletzt in Au bei Freiburg. Er war ein Freund der Gerechtigkeit.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: