Nachruf auf Helmut Kohl:Der Machtmensch aus der Pfalz

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Sein politisches Leben hatte er der europäischen Einigung gewidmet. Die Wiedervereinigung machte Helmut Kohl zum Kanzler der Einheit. Für ein Ehrenwort setzte er seine Reputation aufs Spiel.

Nachruf von Thorsten Denkler

Eine Zufallsbegegnung nur. Kohl saß im Sale e Tabacchi, einem Edelitaliener in Berlin-Kreuzberg, irgendwann 2001. Die Niederlage gegen Gerhard Schröder 1998 lag drei Jahre zurück, die schwersten Stürme der CDU-Spendenaffäre hatte er gerade hinter sich. Auf seinem Teller wartete eine Portion Schinken auf Melone. Seine Schwiegertochter saß ihm gegenüber.

Im gleichen Haus befand sich die Redaktion der taz, eine Zeitung, mit der Kohl noch nie gesprochen hat. Zu links, zu unverschämt, zu respektlos. Ähnlich hatte er es mit dem Spiegel gehalten: Dem gab er 1976 sein letztes Interview.

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Kein anderer Kanzler regierte so lange wie Helmut Kohl. Seine Kritiker warfen ihm vor, er stehe für deutschen Mief und Vetternwirtschaft - für seine Anhänger ist er Symbol der Wiedervereinigung.

Ein Foto vielleicht, Herr Bundeskanzler? "Kein Foto", brummte Kohl. "Aber setzen Sie sich mal dazu." Es war mehr ein Befehl denn eine Aufforderung. Dann sprach er über die Europäische Union, wie fragil das Gebilde sei und dass alles getan werden müsse, es zu erhalten.

Nach etwa einer Stunde wies er seinen Gast an, ihn jetzt bitte mit seiner Schwiegertochter allein zu lassen. Und gab noch ein Versprechen mit auf den Weg: Wenn die Begegnung nicht öffentlich wird, dann würde er der taz irgendwann ein Interview geben. Es muss nichts mit dieser Begegnung zu tun gehabt haben. Aber er hat sein Versprechen zwei Jahre später eingelöst - in der Jubiläumsausgabe zum 25-jährigen Bestehen der taz im Gespräch mit Kai Diekmann.

Rebellisch und unterschätzt

So war Helmut Kohl. Ein Mann, auf dessen Wort Verlass war. Selbst um den Preis der eigenen Demontage. Der Kanzler der Einheit musste seit der CDU-Spendenaffäre mit dem Vorwurf leben, das Gesetz weniger zu achten als seine Versprechen. Sein Ehrenwort, die Namen der Spender nicht zu nennen, war ihm wichtiger als seine Reputation.

Der Mann aus Oggersheim. Der Pfälzer mit Dialekt. Die Birne. Kohl gehörte wohl von den frühen Anfängen seiner politischen Karriere an zu den meist unterschätzten Politikern des Landes. Als jüngster Fraktionschef des Landtages in Rheinland-Pfalz, da war er noch wohlgelitten. Er galt als Rebell, hatte Ende der 60er Jahre die "Bratenrock-Mentalität der Adenauer-CDU" gegeißelt.

1930 geboren war er, wie der Historiker Arnulf Baring schrieb, im Grunde ein Nachkriegskind. Gerade 15, als Hitler-Deutschland in sich zusammenbrach. Nach dem Krieg trat er in die CDU ein, baute sie zum Teil mit auf.

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Beim Regierungsantritt 1982 verkündete Helmut Kohl die "geistig-moralische Wende", doch in Erinnerung blieben andere Ereignisse: die Wiedervereinigung, die Flick-Affäre - und eine krachende Wahlniederlage.

Er wollte hoch hinaus, scharte Leute wie Heiner Geißler um sich, die seinen Machtinstinkt erkannten und deren Intellekt Kohl brauchte. 1966 wurde Kohl Chef der Landes-CDU, drei Jahre später löste er nach einem Prozess der Entmachtung Peter Altmeier als Ministerpräsidenten des Landes ab. Er war gerade 39 geworden. Und noch längst nicht am Ende.

In der biederen und verknöcherten Adenauer-CDU galt Kohl vielen als politischer Jungbrunnen, der agil und voller Tatendrang, aber im Bewusstsein seiner katholischen Herkunft nach der Macht strebte.

Der Vorsitz als Basis der Macht

1971 versuchte er zum ersten Mal, Vorsitzender der Bundes-CDU zu werden. Er scheiterte noch an Rainer Barzel. Ein Jahr nach dem dieser ein konstruktives Misstrauensvotum gegen Kanzler Willy Brandt verlor, war Kohl zur Stelle. 1973 übernahm er von Barzel den Vorsitz der CDU. Ein Amt, das er bis 1998 behalten sollte. Das Parteiamt sollte die Basis seiner Macht sein.

Als Parteichef machte er es sich zur Angewohnheit, den Telefonhörer in die Hand zu nehmen und Kreisvorsitzenden zum Geburtstag ihrer Frau zu gratulieren, sich nach dem werten Befinden zu erkundigen und - dank schwarzer Kassen - auch manchmal Dinge außer der Reihe möglich zu machen.

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Die Bundestagswahl 1976 festigte seine Macht. Mit 48,6 Prozent schrammte er nur knapp an der Kanzlerschaft vorbei. Er gab sein Amt als Ministerpräsident auf, wurde Oppositionsführer.

1980 musste er Franz Josef Strauß den Vortritt als Kanzlerkandidat lassen, der die Wahl deutlich schlechter abschloss als Kohl. Schon damals aber war die sozial-liberale Koalition inhaltlich ausgezehrt. 1982 brach sie auseinander, die FDP wählte Kohl in einem konstruktiven Misstrauensvotum zum Kanzler, in einer Neuwahl im März 1983 ließ sich die neue Regierung legitimieren. Kohl war dort angekommen, wo er immer hinwollte. Die SPD erholte sich von der Niederlage lange nicht.

Obwohl Kohl zunächst glücklos handelte. Innenpolitisch hatte er mit der Flick-Affäre zu kämpfen. Es ging um illegale Zahlungen des Konzerns an deutsche Politiker. Kohl war durch ein Kassenbuch belastet.

Vor dem Untersuchungsausschuss des Bundestags und des Mainzer Landtags log Kohl nachweislich. Einem Strafverfahren wegen uneidlicher Falschaussage entging er nur knapp. Kohl habe wohl einen "Blackout" gehabt, sagte später Heiner Geißler über ihn.

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Kohls Bühne wurde Europa und die Welt. Hand in Hand stand er am 22. September 1984 mit dem französischen Staatspräsidenten und Sozialisten François Mitterrand auf dem Soldatenfriedhof von Verdun, um der gemeinsamen Toten der beiden Weltkriege zu gedenken.

Das Bild ging um die Welt als Zeichen der Aussöhnung. Als er Jahre später am Gedenkakt für den verstorbenen Mitterrand in der Kathedrale Notre-Dame zu Paris teilnahm, lief ihm eine Träne über die Wange. Die Szene beschrieb Ulrich Wickert in der FAZ.

Freundschaft war Kohl wichtig. Die zu Mitterrand war eine besondere, die zum spanischen Ministerpräsidenten Felipe Gonzáles auch. Später sollte jene zu Michail Gorbatschow hinzukommen. Der letzte Staatschef der Sowjetunion hat mit seiner Perestroika den Fall der Mauer erst möglich gemacht. So wurde Kohl zum Kanzler der Einheit.

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Gorbatschows Politik der Öffnung hat den Menschen der DDR den Mut gegeben, gegen den SED-Staat auf die Straße zu gehen. Kohl erkannte, dass es ein Zeitfenster für die deutsche Einheit gibt, er ahnte, dass es womöglich nicht allzu lange offen sein würde.

Ohne Rücksprache mit den vier Siegermächten USA, Frankreich, Großbritannien und Sowjetunion verkündete er am 28. November 1989 im Bonner Wasserwerk, 19 Tage nach dem Fall der Mauer, ein "Zehn-Punkte-Programm zur Überwindung der Teilung Deutschlands und Europas". Er hat damit klargemacht: Deutschland will die Einheit. Und zwar so schnell wie möglich.

Über das "Ob" gab es für ihn keine Verhandlungsbereitschaft mehr. Nur noch über das "Wie". Und selbst da warf er wirtschaftspolitische Grundsätze über Bord. Im Wahlkampf 1990 sezierte SPD-Kanzlerkandidat Oskar Lafontaine die Unzulänglichkeiten von Kohls Plänen und prophezeite massive Steuererhöhungen. Kohl versprach das Gegenteil. Lafontaine sollte ökonomisch recht behalten. Kohl aber politisch.

Er setzte die Währungsunion durch, brachte den DDR-Bürgern die D-Mark - und gewann die Wahl. In den folgenden Jahren hatte Kohl vor allem mit der Vollendung der deutschen Einheit zu tun. Zugleich brachte er Europa voran. Der Beschluss zur Einführung des Euro im Mai 1998 war der Höhepunkt dieser Entwicklung.

Die Bundestagswahl wenige Monate später verlor er. Die schwarz-gelbe Bundesregierung hatte sich aufgebraucht. Nach 16 Jahren hatten die Menschen genug von Kohl und wagten es, die erste rot-grüne Bundesregierung ins Amt und zum ersten Mal überhaupt eine bestehende Regierung regulär abzuwählen.

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Kohl trat umgehend als Vorsitzender der CDU zurück. Nach seiner Kanzlerschaft erschütterte eine neue Spenden-Affäre das Land und die CDU. Kohl wollte die Namen der Spender von mehreren Millionen Mark nicht offenlegen, die in schwarzen Kassen entdeckt worden waren. Er stellte sich damit gegen das Parteiengesetz. Sein Ehrenwort war ihm auch hier wichtiger als der Ehrenvorsitz der Partei, den er 2000 niederlegte.

Die Strafzahlungen in Millionenhöhe, die die CDU an den Bundestag leisten musste, beglich Kohl nach einem privaten Spendenaufruf aus eigener Tasche. Danach war sein Ruf jahrelang ruiniert. Angela Merkel war es, die zwei Tage vor Weihnachten 1999 in einem denkwürdigen Aufsatz in der FAZ noch als Generalsekretärin ihre Partei aufgefordert hatte, sich vom übermächtigen Kohl zu lösen. Kohl habe "der Partei Schaden zugefügt", schrieb sie. Dass er "in einem rechtswidrigen Vorgang" sein Ehrenwort "über Recht und Gesetz" stelle, sei nicht akzeptabel. Merkel sprach aus, was viele in der CDU dachten.

Seltene Momente des öffentlichen Selbstzweifels

In den Jahren danach suchte sie allerdings nach und nach wieder Kontakt zu Kohl. Seine historischen Leistungen sollten nicht auf ewig von dem Spendenskandal überdeckt werden. Spätestens als Merkel aus eigener Kraft Kanzlerin wurde, war es ihr möglich, Kohl den Weg zurück in seine CDU zu ebnen. Nur fiel es Helmut Kohl von Jahr zu Jahr schwerer, sich einzubringen.

Nach einem schweren Sturz war er auf einen Rollstuhl angewiesen, sprach nur schwerfällig, kaum länger als zehn Minuten. Meistens ging es um Europa oder die deutsche Einheit. "Das gibt es kein zweites Mal in der Weltgeschichte", sagte er, als er im Mai 2013 von der bayerischen Staatsregierung für seine Verdienste um die deutsche Einheit geehrt wurde.

Aber er sagte auch dies: "Nicht alles, was wir uns vorgenommen haben, haben wir erreicht." Es war einer der seltenen Momente des öffentlich geäußerten Selbstzweifels.

Kohl starb am an diesem Freitagmorgen im Alter von 87 Jahren in seinem Haus in Ludwigshafen.

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