Nachruf auf den FDP-Politiker:Drei Erinnerungen an Hans-Dietrich Genscher

Hans-Dietrich Genscher

Ein Foto, wie es nicht typischer sein könnte: Hans-Dietrich Genscher mit gelbem Pullover im Flugzeug.

(Foto: dpa)

Meister des Diplo-Gebabbels, gewitzter Gesprächspartner, Zimmermann der politischen Bühne: Der FDP-Politiker liebte das Spiel mit der Öffentlichkeit.

Von Stefan Kornelius, Heribert Prantl und Udo Bergdoll

Wer aus dem kleinen Städtchen Bonn über die große Politik berichtete, der hatte auf den ersten Blick keine Mühe, das Geschäft der Scheinriesen zu durchschauen. Klein und groß - einen so gewaltigen Unterschied machte das nicht am Regierungssitz. Bonn war so durchschnittlich wie die von hier aus gesteuerte Republik. Das machte das Personal demütig und bescheiden. Abends traf man sich in der Kneipe.

Hans-Dietrich Genscher aber war ein Scheinriese der umgekehrten Sorte. Er gab sich bescheiden und kokettierte mit seinem Leben zwischen Pech und Wahn. In Wachtberg-Pech stand sein Haus. In Köln-Wahn stand sein Flugzeug, in dem er den anderen Teil seines Lebens verbrachte. Auf der Mitte der Strecke lag das Außenministerium, sein Amt, denn nach 18 Jahren hatte er es wahrlich geformt, bis hinab zum letzten Referentenposten.

Je näher man Genscher kam, desto unnahbarer wurde er

Wer sich Genscher auf den Linoleum-Fluren des Auswärtigen Amtes näherte, der hatte ein besonderes Erlebnis: Der Mann wuchs mit jedem Meter. Je näher man kam, desto weniger nahbar war er. Genscher pflegte einen Vertraulichkeitskult, den selbst Helmut Kohl mit seinem Küchenkabinett kaum zu überbieten vermochte. War sich Genscher seiner Zuhörer nicht sicher, dann verfiel er in ein nichtssagendes Diplo-Gebabbel, das selbst der späte Steinmeier nur mit höchster Anstrengung zu imitieren versteht.

Offen und hart im Urteil war Genscher nur wenigen Freunden, Beamten oder Journalisten gegenüber. Der kleine Kreis der Genscheristen in der Korrespondenten-Welt der Dahlmannstraße und des Tulpenfelds rottete sich in der Gelben Karte zusammen. Vieles, was über Genscher geschrieben wurde, hätte noch ein zweites Mal übersetzt werden müssen. Genscherismus war wie Kremlogie - viel Interpretation, gespitzte Münder, bedeutungsschwangeres Geraune.

Genscher liebte das Mysterium um seine Person, das Spiel mit der Andeutung. Und er steckte sie alle damit an: sein Amt, seine Koalition, den Journalisten-Dunstkreis und die distinguierten Herrschaften der außenpolitischen Bonner Welt. So betrieb der Riese fast unbemerkt eine fulminante Politik. Gemerkt haben es damals nicht viele.

Stefan Kornelius

Händchen halten mit Helmut Kohl

Er hat sich auch als ein Meister im Bohren sehr dicker Bretter ins Geschichtsbuch geschrieben. Man denke nur an Hans-Dietrich Genscher und Andrej Gromyko, seinen stets misstrauisch und grimmig wirkenden Moskauer Kollegen. Dem Außenminister der Bonner Republik gelang es in entscheidender Stunde, den Außenminister der damaligen Sowjetunion auf einer Konferenz in Wien davon zu überzeugen, dass gegenseitige Manöverbeobachtung keinesfalls Spionage sei, sondern vielmehr eine Maßnahme zur Vertrauensbildung. Es waren die Jahre der KSZE, der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, als West und Ost begannen, zur Friedenssicherung aufeinander zuzugehen.

Als der russische Perestroika-Erfinder, Generalsekretär Michail Gorbatschow, in Bonn einmal mit dem Nazi-Propaganda-Minister Joseph Goebbels verglichen wurde, forderte Genscher postwendend, dem sowjetischen Staats- und Parteichef Vertrauen zu schenken und ihn "beim Wort zu nehmen". Ohne die KSZE und ohne Gorbatschow wäre das Brechen des Eises zwischen Ost und West wohl nicht möglich gewesen. Helmut Kohl, der Bundeskanzler, war der beherzte Macher bei den entscheidenden Schritten nach dem Mauerfall zur deutschen Einheit. Genschers große Leistung aber ist die konsequente Ebnung des Weges dorthin.

Genscher gab Interview en masse - und wurde massenhaft zitiert

Apropos dicke Bretter: Als die FDP und Genscher 1982 nach dem Koalitionswechsel von der SPD zur Union am Boden lagen, war der Außenminister fast täglich im Interview des Deutschlandfunks zu hören: und zwar morgens zu sehr früher Stunde. Genscher gelang es so, die Themen für den Tag zu setzen. Er wurde zitiert und zitiert. Und nicht zuletzt deshalb gewann er mit der Zeit seine Reputation zurück.

Das Verhältnis Genschers zu Helmut Kohl war betont sachlich. Bis auf eine Ausnahme, in einem wirklich großen Moment. Als Michail Gorbatschow bei Gesprächen in Moskau erstmals mit seinen Worten den Weg zur deutschen Wiedervereinigung freigab, haben die beiden - unbeobachtet von Diplomaten und Journalisten - unter der Tischdecke "Händchen gehalten".

Der Außenminister mit Jetset-Leben

Kein deutscher Außenminister hat wohl so oft in Flugzeugen gesessen wie Hans-Dietrich Genscher. Klar, dass darüber gewitzelt wurde: Genscher, der schon im Ruf eines Meisters der Ubiquität stand, sei sich in zwei entgegengesetzten Flugrichtungen selbst begegnet . . .

Witze über Genscher wurden eine Zeit lang auch wegen seiner Englisch-Kenntnisse gerissen. Er versuchte aber nie, gegen den Eindruck anzugehen, er tue sich etwas schwer mit der englischen Sprache. Tatsache war jedenfalls, dass er sich in diplomatischen Verhandlungen immer Englisch ins Deutsche übersetzen ließ. Das war auch eine für ihn typische List: Er tat das, um den Vorteil des Zeitgewinns zu nutzen, und so seine Antwort genau überlegen zu können. Als er aber einmal auf einer Einladung des amerikanischen Botschafters aus dem Stegreif eine launige Rede auf Englisch hielt, da hatte dieser kleine Trick sein Ende gefunden.

Udo Bergdoll

Das sächsisch nuschelnde liberale Orakel

Er war ein rastloses Kommunikationsgenie, ein globaler Netzwerker; zugleich ein Meister der Selbstbeherrschung. Das passt eigentlich nicht zusammen; aber bei Genscher passte es; er konnte das: reden und reden und dabei den Eindruck erwecken, dass er einem Vertrauliches zu sagen habe - auch wenn es eigentlich nichts Besonderes und schon gar nichts Vertrauliches war. Er konnte raunend Vertrauen schaffen. Und als er nicht mehr Minister war, sondern elder statesman, wurde aus dem Meister des Raunens das gelegentlich noch immer sächsisch nuschelnde liberale Orakel.

Genscher gilt als Politiker, der stets alles im Griff hatte - so stand es im Untertitel eines Films, den die ARD zu seinem achtzigsten Geburtstag ausstrahlte. Aber das stimmt nicht. Den Koalitionswechsel der FDP von der Helmut-Schmidt-SPD hin zur Helmut-Kohl-CDU im Jahr 1982 hatte er nicht so ganz im Griff; damals wäre die FDP fast auseinandergeflogen. Genscher hatte Glück. Natürlich hatte er den Koalitionswechsel gewollt, aber nicht mit so großem Schaden.

Talente wie Günter Verheugen, damals FDP-Generalsekretär, verließen die FDP und wechselten zur SPD. Die FDP nachher war eine andere. Ihre bürgerrechtliche Wurzel schrumpfte von da an, sie trieb nie mehr richtig aus. Auch das war einer der Gründe dafür, warum die FDP 2013 aus dem Bundestag flog. Weder Jürgen Möllemann noch Guido Westerwelle, auf die Genscher große Stücke setzte und zu denen er ein Vater-Sohn-Verhältnis hatte, konnten oder wollten die Bürgerrechtlichkeit der FDP wiederbeleben.

Genscher war 23 Jahre lang Minister - und trat freiwillig ab

Als Bundesaußenminister zimmerte Genscher die Bühne, auf der Kohl der Kanzler der Einheit werden konnte. Das Handwerk des Zimmerns hatte er als Bundesinnenminister gelernt; da erwarb er sich den Ruf eines großen Organisators. Als erster deutscher Minister erkannte er die Bedeutung des Umweltschutzes. Sein Innenministerium schrieb die ersten deutschen Mustergesetze für die Umweltpolitik, das Bundesimmisionsschutzgesetz zum Beispiel. Genscher war es auch, der, als die Verbrechensserie der RAF begann, das damals verschnarchte Bundeskriminalamt aufweckte. Er machte den legendären Horst Herold zum BKA-Chef.

Genscher war mehr als 23 Jahre lang Minister als er 1992, überraschend und aus freien Stücken, sein Amt abgab. Gerüchte, es gebe "irgendwas", merkwürdige Ostkontakte womöglich, waren Unsinn. Er war damals 65, er hatte gerackert, mit seiner Gesundheit stand es nicht zum Besten. Er wollte noch leben. Er hat das noch 24 Jahre lang geschafft.

Heribert Prantl

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