Nachrichtendienst:Pullacher Schein und Sein

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Jost Dülffer hat die Geschichte des BND in den 1960er-Jahren erforscht. In der Öffentlichkeit stand der Dienst damals ganz gut da. Doch in Wahrheit handelte es sich um einen desolaten Haufen.

Von Constantin Goschler

Am 12. November 1962 bestellte Konrad Adenauer BND-Chef Reinhard Gehlen in sein Büro, um ihn dort einem strengen Verhör zu unterziehen. Der Bundeskanzler stand kurz davor, Gehlen verhaften zu lassen: Er verdächtigte ihn, den Spiegel vorab von einer Aktion gegen das Nachrichtenmagazin wegen angeblichen Landesverrats informiert zu haben. Gehlen entkam Verhaftung und Entlassung, aber sein Ruf und der des BND blieben angeschlagen.

Dieser in der Geschichte der Bundesrepublik einmalige Vorgang bildet die Schlüsselszene in der von Jost Dülffer eindrucksvoll analysierten Geschichte des BND in den 1960er-Jahren. Zwei Hauptelemente verdichteten sich damals zu einer Krise: Erstens verlor der BND zunehmend das Vertrauen der Bundesregierung. 1961 war die Pullacher Organisation vom Bau der Berliner Mauer überrascht worden, im folgenden Jahr wurden Bonn im Zusammenhang mit der Spiegel-Affäre die engen Beziehungen zwischen Pullacher Geheimdienst- und Hamburger Journalistenmilieu suspekt. Mindestens so gravierend war die innere Erosion des BND, die den bundesdeutschen Auslandsnachrichtendienst weitgehend lähmte. Auslöser dafür war, dass 1961 Heinz Felfe als Sowjetagent enttarnt wurde. Dabei handelte es sich ausgerechnet um den Leiter der für Gegenspionage zuständigen Abteilung des BND.

Jost Dülffer bietet keine klassische Geheimdienstgeschichte und schildert keine aufregenden nachrichtendienstlichen Aktionen. Ihn interessiert vor allem die Rolle von Geheimdiensten in einer liberalen Demokratie, und dies macht sein Buch zugleich sehr aktuell. Eindrucksvoll beschreibt er, wie der BND im Kontext der fundamentalen politischen und gesellschaftlichen Veränderungen der 1960er-Jahre zunehmend dysfunktional wurde. Der von Gehlen ganz auf seine Person zugeschnittene Nachrichtendienst hatte durch den Verrat Felfes einen Großteil seines Agentennetzes im sowjetischen Machtbereich verloren und war dadurch für lange Zeit erblindet. Die Folge war eine doppelte Sicherheitsparanoia: Erstens blühte die Angst vor Verrätern im eigenen Haus. Dies führte zu exzessiver organisatorischer Abschottung und Selbstlähmung der eigenen Aufklärungsarbeit. Zweitens verstärkte sich die Angst vor der Sowjetunion, der gegenüber man die eigenen Aufklärungskapazitäten verloren hatte. Dabei empfand sich Gehlen im Zeitalter der einsetzenden Entspannungspolitik zunehmend als einsamer Mahner in der Wüste, der unbeirrt die Gefährlichkeit der Sowjetunion hervorhob, womit er an seinem im Zweiten Weltkrieg als Chef der Abteilung Fremde Heere Ost im Generalstab der Wehrmacht erworbenen Weltbild festhielt. Kurzum, Dülffer zeichnet für die 1960er-Jahre ein desolates Bild des BND und seiner Arbeit.

Besprechungsraum „Alter Fritz“ in der Präsidentenvilla auf dem Gelände des Bundesnachrichtendienstes bei München. Das Foto entstand 2013. (Foto: Alessandra Schellnegger)

Der Vorrang der Eigensicherung in der Organisationskultur des BND prägte auch die Haltung Gehlens gegenüber den von Adenauer angestoßenen und von seinen Nachfolgern in unterschiedlicher Intensität weitergetriebenen Reformversuchen. Dem BND-Chef gelang es, die bereits 1963 beschlossene Unterstellung unter das Bundeskanzleramt und die politische Kontrolle seiner Behörde bis zu seinem Ausscheiden 1968 weitgehend zu unterlaufen. Auch eine wirksame parlamentarische Kontrolle konnte er verhindern. Erst 1978, zehn Jahre nach Gehlens Ausscheiden aus dem BND, wurde mit der Einführung des parlamentarischen Kontrollgremiums zumindest eine "umfassende" Auskunftspflicht des BND eingeführt, und dieser Zustand besteht im Wesentlichen bis heute fort.

Zum Schutz vor äußeren Gefahren war der BND in den 1960er-Jahren also kaum fähig. "Bedingt abwehrbereit" - so das skandalträchtige Verdikt über die Bundeswehr Anfang jenes Jahrzehnts - wäre dafür noch ein Euphemismus gewesen. Paradoxerweise stand der BND in der Öffentlichkeit besser da als es sein tatsächlicher Zustand eigentlich erlaubt hätte. Gehlen unterhielt weitgespannte politische Netzwerke und unternahm große Anstrengungen, um das Bild des BND - und vor allem sein eigenes - in den Medien zum Leuchten zu bringen. Gelockt wurden Politiker und Journalisten mit dem Zugang zu exklusiven nachrichtendienstlichen Informationen. Zugleich wurde der politischen Klasse auch gedroht. Dort glaubten viele, dass Gehlen über umfangreiche Personendossiers mit kompromittierenden Informationen verfüge. Damit vermochte dieser auch den drohenden Einflussverlust des BND zumindest zu verzögern.

Jost Dülffer: Geheimdienst in der Krise. Der BND in den 1960er Jahren. Ch. Links Verlag Berlin 2018, 672 Seiten, 50 Euro. E-Book: 24,99 Euro. (Foto: Ch. Links Verlag)

Dülffers nüchterner Ton entzieht Verschwörungstheorien aller Art den Boden. Gleichwohl werfen die von ihm beschriebenen Formen der Zusammenarbeit des BND mit einzelnen Vertretern von Politik und Medien gelegentlich einen leichten Schatten von deep state auf die Geschichte der Bundesrepublik der 1960er-Jahre. Vor allem mit Blick auf die Zusammenarbeit mit der CDU/CSU beschreibt er so "im Ansatz den Kern zu einem geheimdienst-parteipolitischen Komplex".

Dülffer zeigt aber auch die Grenzen solcher Entwicklungen auf. Entscheidend war, dass das Vertrauen in den Wert der vom BND gelieferten Informationen zunehmend sank. Zugleich war auch die Integrität Gehlens zunehmend umstritten. So konnte er seinen Einflussverlust letztlich lediglich verzögern, aber nicht verhindern. Seinem 1968 ins Amt gelangten Nachfolger Gerhard Wessel gesteht Dülffer neben der ehrlichen Absicht, den vorgefundenen Augiasstall BND auszumisten, auch einige tatsächliche Erfolge zu. Die mit der Existenz eines Auslandsnachrichtendienstes in einer Demokratie verbundenen grundsätzlichen Konflikte konnte freilich auch er nicht aus der Welt schaffen, und manche davon reichen bis in die Gegenwart.

Zu diesen Konflikten gehört vor allem auch die Auseinandersetzung um die Transparenz des BND, deren Grenzen ständig politisch ausgehandelt werden müssen. Das vorliegende Buch entstand als Teil einer zur Erforschung der Geschichte des BND eingesetzten Unabhängigen Historikerkommission. Doch der ursprünglich gewährte fast vollständige Zugang zu den Akten des BND wird voraussichtlich auf dieses Projekt beschränkt bleiben. Die umfangreichen Quellenzitate in diesem Buch werden somit wahrscheinlich auf absehbare Zeit die einzige Möglichkeit bleiben, um sich nicht allein auf die klugen Analysen Jost Dülffers stützen zu können, sondern sich auch ein eigenes Bild von den Vorgängen im BND in den 1960er-Jahren zu machen.

Constantin Goschler ist Professor für Zeitgeschichte an der Ruhr-Universität Bochum. Er beschäftigt sich vor allem mit Kriegs- und Gewaltfolgen, Geheimdiensten und Biopolitik.

© SZ vom 30.07.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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