Süddeutsche Zeitung

Nachhaltige Politik:Ein guter Rat für die Zukunft

Das politische System scheitert im Kampf gegen die Klimaerhitzung. Der Philosoph Bernward Gesang fordert deshalb als vierte verfassungsmäßige Gewalt einen Zukunftsrat.

Interview von Markus C. Schulte von Drach

Der Wahlkampf neigt sich dem Ende zu, das Thema Klimawandel haben die großen Parteien ignoriert. Viele Menschen interessieren sich eher für Probleme, die sie jetzt und unmittelbar betreffen. Das macht es schwierig, Maßnahmen durchzusetzen, die zukünftige Generationen vor Schaden bewahren. Der Philosoph Bernward Gesang von der Universität Mannheim sieht eine Möglichkeit, etwas dagegen zu tun.

SZ: Leo Szillard, einer der Väter der Atombombe, war auch Autor von Science-Fiction-Kurzgeschichten. Er hat einmal einen seiner Protagonisten über die Demokratie sagen lassen, er könne zwar noch nachvollziehen, wieso die Stimme eines Dummkopfs das gleiche Gewicht habe wie die eines Genies. Aber wieso zwei Dummköpfe besser sein sollten als ein Genie, leuchte ihm nicht ein. Welche Probleme hat die Demokratie Ihrer Meinung nach?

Bernward Gesang: Neben der Qualifikation, die manchen Leuten fehlt, um überhaupt die richtigen Entscheidungen zu kennen und dann zu wählen, sehe ich vor allem ein Anreizproblem auf Seiten der Politiker. Die machen Politik für ihre Wiederwahl im Vier-Jahres-Rhythmus und sind so ein Stück weit als Eigennutz-Optimierer unterwegs. Dann gibt es natürlich noch den Einfluss von Lobbyisten, der diese Tendenz verstärkt. Viele Interessengruppen sitzen nicht mit am Tisch. Zum Beispiel die zukünftigen Generationen.

Die Deutschen sagen in Umfragen doch häufig, Umwelt- und Klimaschutz seien ihnen wichtig.

Wenn man aber nachfragt, was sie bereit wären dafür aufzugeben oder zu bezahlen, sind die Antworten ernüchternd. Das tendiert schnell gegen null.

Was müsste sich ändern?

Man könnte eine "Dritte Kammer" im parlamentarischen System einrichten - neben Bundestag und Bundesrat - die die Aufgabe hätte, die Interessen der künftigen Generationen heute schon zu repräsentieren. Man kann sich vorstellen, dass dafür Kandidaten nominiert werden, aber nicht von den Parteien, sondern von anderen Institutionen, etwa von Universitäten, Forschungsinstitutionen, Schriftstellerverbänden, Journalistenverbänden, Umweltorganisationen. Personen, die durch ihr Engagement für die Zukunft schon aufgefallen sind. Die Parteien sollten eher kein Vorschlagsrecht haben.

Am besten würden die Kandidaten dann direkt von der Bevölkerung gewählt. Oder sie könnten, wenn sich das nicht durchsetzen lässt, vom Parlament eingesetzt werden. Und zwar mit dem Mandat, die Interessen der zukünftigen Generationen vor katastrophalen Entwicklungen zu schützen. Gewählt werden sollten sie nur einmal, allerdings für sieben oder acht Jahre. Dann hätten sie nicht den Anreiz, ihre eigene Wiederwahl zu bewirken, dafür könnten sie aber langfristiger planen.

Wie genau sollte die Arbeit eines solchen Zukunftsrats aussehen? Die Politik beraten?

Beratungsgremien gibt es schon. Etwa den Wissenschaftlichen Beirat für Globale Umweltveränderungen, der für die Bundesregierung Gutachten zur globalen Umweltpolitik verfasst. Da steht immer viel drin, an das sich dann nicht gehalten wird. Auch die fünf sogenannten Wirtschaftsweisen geben jedes Jahr einen Bericht ab, dem die Regierung nicht folgt. Beraten allein bringt wenig. Der Zukunftsrat sollte deshalb ein Veto einlegen können gegen Gesetze, die für die Zukunft nicht nachhaltig genug sind.

Besteht nicht die Gefahr, dass dadurch die Politik blockiert wird?

Der Rat muss ja nicht die letzte Instanz sein. Man kann die Möglichkeit festlegen, dass nach einem Veto ein Vermittlungsausschuss eingerichtet wird. Das geschieht jetzt schon, wenn der Bundesrat ein Veto gegen Beschlüsse des Bundestages einlegt. Es lässt sich ein System von "Checks and Balances" einrichten, das verhindert, dass der Rat ein antidemokratisches Instrument werden könnte.

Aber reale Machtbefugnisse braucht so ein Rat auf jeden Fall, sonst würde man der ganzen Idee einen Bärendienst erweisen. Die ganzen Überlegungen sind ja nur sinnvoll, wenn wir tatsächlich zu einer neuen Wirtschaftspolitik kommen, die nachhaltig ist. Die abgestimmt ist auf die Interessen von Gegenwart und Zukunft, und einen Ausgleich hinbekommt. Die beispielsweise auf einen "Green New Deal" zielt. So wie bisher kann es ja offensichtlich nicht weitergehen.

Die wichtigste Funktion des Rates läge übrigens gar nicht im Veto selbst, sondern in der Kooperation der herkömmlichen Politik mit dem Zukunftsrat, die sich darauf einstellt und Gesetze von vornherein anders entwirft. In Ungarn zum Beispiel gibt es seit 2008 einen parlamentarischen Sekretär für die Rechte zukünftiger Generationen. Bevor das Amt von der Orbán-Regierung 2012 weitgehend entmachtet wurde, konnte der frühere Amtsinhaber Sándor Fülöp ein Veto einlegen - was er aber nie tun musste. Die Parteien haben gleich konsensfähige Gesetze vorgelegt, um das zu vermeiden.

Welchen Status müsste ein Zukunftsrat haben, um ausreichend Macht zu haben?

Man könnte ihn etwa mit einer Verfassungsänderung in den Stand einer "vierten Gewalt" zu heben. Natürlich dürfte er sein Veto nur bei Gesetzen einlegen, die die Interessen zukünftiger Generationen wirklich betreffen. Der Rat würde außerdem wie jedes Verfassungsorgan einer gerichtlichen Kontrolle unterstehen. Das Risiko des Machtmissbrauchs wäre nicht größer als bei anderen staatlichen Institutionen.

Gibt es weitere Aufgaben, die ein Zukunftsrat erfüllen sollte?

Der Rat sollte das Recht haben, umfassend darüber informiert zu werden, was im Staat vorgeht, und die Informationen an die Öffentlichkeit weiterzugeben. Seine Mitglieder sollten vor dem Parlament reden und selbst Gesetzesinitiativen starten können.

Ein Zukunftsrat mit Fachleuten, die die Politik stark beeinflussen können - droht hier nicht eine undemokratische Expertokratie, in der uns verboten wird, Auto zu fahren oder Fleisch zu essen?

Zur Demokratie gibt es natürlich keine Alternative. Der Zukunftsrat soll sich nur um Dinge kümmern, von denen wir wissen, dass sie auch in hundert Jahren noch wichtig sind. Es geht um die natürlichen Lebensgrundlagen. Die Grundbedürfnisse der Menschen müssen auch in Zukunft befriedigt werden können: Atmen, Essen, Trinken.

Mit "Business as usual" bekommen wir das gerade offenbar nicht hin. Wir richten Schäden an, die sich auf Jahrhunderte akkumulieren. Wir können den Zukunftsrat deshalb als ein Kriseninstrument, als eine Art Notbremse im ökologischen Notstand betrachten, der das Schlimmste abfangen und zu einer Wende führen soll. Nach zwei oder drei Legislaturperioden brauchen wir ihn dann vielleicht gar nicht mehr.

Wie ließe sich erreichen, dass ein Zukunftsrat ins Leben gerufen wird?

Da ist natürlich die Quadratur des Kreises: Politiker sollen dahin gebracht werden, sich selbst eine Hemmschwelle in den Weg zu legen. Dafür wäre Druck durch die Öffentlichkeit und die Medien gut. Außerdem gibt es Pilotprojekte, an denen man sich orientieren kann. In Ungarn hat es für einige Jahre funktioniert. In Israel gab es das auch für einige Jahre. Ähnliche Institutionen, allerdings mit weniger Befugnissen, gibt es zurzeit in Wales, Finnland und Neuseeland.

Ich habe in Baden-Württemberg versucht, die Landesregierung unter dem grünen Ministerpräsidenten zu einem entsprechenden Pilotprojekt zu bewegen, in der Hoffnung, dass hier ein Vorbild für Deutschland oder Europa entstehen könnte. Aber das Umweltministerium hat mir versichert, dank der Grünen wäre das im Land nicht notwendig.

Auch grüne Politiker haben, wenn sie an der Macht sind, also kein großes Interesse an so einer Hemmschwelle. Was gibt es noch für Möglichkeiten?

Es könnten sich auch die großen Naturschutzorganisationen zusammentun und einen Zukunftsrat einsetzen, der den Vorgaben entspricht wie ein verfassungsmäßiger Rat. Das Gremium müsste gewissermaßen alternativ Politik machen, indem es kommentiert, bei welchen Entscheidungen der realen Politik man ein Veto eingelegt hätte.

Über die Jahre könnte man dann sehen, wie eine Politik mit einem solchen Rat abgelaufen wäre, und welche Probleme nicht aufgetreten wären, wenn er reale Macht gehabt hätte. Das könnte Druck auf die Politik ausüben, in diese Richtung zu gehen. Aber das ist natürlich eine Strategie des langen Atems.

Haben Sie Hoffnung, dass es bald einen Zukunftsrat geben könnte?

Leider nicht. Trotzdem sollten wir die Alternativen in den Raum stellen und uns dafür einsetzen. Gerade weil derzeit offenbar viele Menschen das Gefühl haben, dass es bei der Wahl keine echten Alternativen mehr gibt und dass das politische System festgefahren ist.

Bernward Gesang ist Professor für Philosophie an der Universität Mannheim, mit dem Schwerpunkt Wirtschaftsethik. In seinem jüngsten Buch beschäftigt er sich auch mit der Idee des Zukunftsrates, vor allem aber ganz allgemein mit der Philosophie des richtigen Handelns: "Darf ich das oder muss ich sogar?"

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