Nachfolger für Jeremy Corbyn:Vier gegen Johnson

Die britische Labour-Partei ist nach der Wahlniederlage vom Dezember noch im Schockzustand. Wer kann sie aus der Daueropposition führen? Allzu viel Charisma verströmt bisher niemand.

Von Cathrin Kahlweit, London

Labour leadership debate on BBC Newsnight

Sie alle wollen Jeremy Corbyn nachfolgen: Emily Thornberry, Keir Starmer, Lisa Nandy und Rebecca Long-Bailey (von links) bei einer Fernsehdebatte der BBC am Mittwochabend.

(Foto: Jeff Overs/BBC/Handout via Reuters)

Als Theresa May Mitte 2019 den Posten als Premierministerin hinwarf, war schnell klar, dass es für ihre Nachfolge wenig Konkurrenz und einen sicheren Gewinner geben würde: Boris Johnson. Die Brexitfreunde versammelten sich hinter ihm, Brexitgegner verstummten. Johnson schaffte den Durchmarsch problemlos.

Die aktuelle Urwahl in der britischen Labour-Partei erinnert hingegen stark an die US-Primaries: mehrere Kandidaten, die sich zwar persönlich profilieren, aber nicht gegenseitig massiv beschädigen dürfen. Eine ewig lange Auswahl- und Aufwärmphase ohne Entscheidung. Und ein Angstgegner auf der anderen Seite.

Die Partei ist nach der schweren Wahlniederlage vom Dezember im Schockzustand, hat noch immer keine klare Haltung zum Brexit und ist in Altlinke und Sozialliberale gespalten. Labour-Chef Jeremy Corbyn führt die Partei zudem nur noch kommissarisch, weil er das schlechteste Ergebnis der Nachkriegszeit eingefahren hatte. Der scheidende Chef wird kaum noch wahr- und nicht mehr ernst genommen.

Seit Anfang Januar laufen sich daher die Kandidaten für seine Nachfolge warm. Sie werden aber erst Anfang April wissen, wer von ihnen die größte sozialdemokratische Partei Europas künftig führen darf. Oder führen muss - wenn man bedenkt, wie gewaltig die Aufgabe ist. Um nach vier verlorenen Wahlen aus der Daueropposition endlich wieder an die Macht zu kommen, müsste Labour bei der nächsten Wahl 142 Sitze zulegen. Aber so weit und so optimistisch wagt in der Führung ohnehin kaum jemand zu denken. Wichtiger sei, so ist immer wieder zu hören, die Fehler aufzuarbeiten, die zu Boris Johnsons Erdrutschsieg geführt hätten. Und jemanden zu bestimmen, der oder die es besser macht.

Die Führung will diesmal eine Frau, am liebsten eine aus dem Norden

An diesem Freitag wird die Kandidatenliste geschlossen. Dann stimmen Mitglieder und Sympathisanten, die sich für die Teilnahme an der Urwahl registrieren mussten, ab. Vier Namen werden auf dem Wahlzettel stehen, sofern es die Außenpolitik-Expertin Emily Thornberry, mit 60 Jahren die älteste unter den Bewerbern, auf den letzten Metern noch schafft, genügend Parteifreunde davon zu überzeugen, sie zu nominieren: Neben Thornberry wären das die 40-jährige Lisa Nandy aus Manchester, eine Außenseiterin im Rennen um den Top-Job und die schärfste Kritikerin von Corbyn in diesem Quartett. Außerdem Keir Starmer, 58, Londoner, ehemaliger Generalstaatsanwalt und an vorderster Stelle in allen Umfragen. Und Rebecca Long-Bailey, 40, Corbyn-Vertraute, Wunschkandidatin der Parteispitze. Drei der vier sind Unterhaus-Abgeordnete; drei der vier sitzen im Schattenkabinett von Labour.

Die Führung hat deutlich gemacht, man wolle diesmal eine Frau, am liebsten eine aus dem Norden des Landes - und eine Kandidatin, die das Erbe von Corbyn nicht mit Füßen tritt. Derzeit aber sieht es so aus, als wolle die Mehrheit bei Labour genau das nicht mehr. Jurist Starmer, der Kandidat der Mitte, hat doppelt so viele Parteibezirke als Unterstützer gewinnen können wie die anderen drei zusammen - allein das gilt als Überraschung in dieser stark zerspaltenen Partei. Was daraus für den künftigen Kurs der Partei zu lesen ist - das weiß derzeit niemand.

Noch spielt sich der Machtkampf vor allem hinter den Kulissen ab. Die Lager von Long-Bailey und Starmer beschuldigen sich gegenseitig, Mitgliederdateien gehackt zu haben, um an Daten zu kommen. Neben dem Streit gibt es aber auch viel, vielleicht zu viel Übereinstimmung. Starmer hatte am Mittwoch einen Zehnpunkteplan veröffentlicht, in dem er Steuererhöhungen für Reiche, das Aus für die Sozialhilfereform der Tories, die Reduktion von Waffenverkäufen, Wahlrecht für EU-Bürger und offene Grenzen fordert. Sein sozialdemokratisches Programm wird sicher viele Befürworter finden, nur: Rebecca Long-Bailey, die Favoritin der Linken, hat auch einen Forderungskatalog vorgelegt. Darin fordert sie wie Starmer, die Verstaatlichung von Bahn, Post und Energieversorgern, mehr Steuern für Reiche, weniger Waffenverkäufe. Beide wollen das Oberhaus langfristig abschaffen, beide wollen mehr Umweltschutz.

Sie gilt als politisches Talent, aber nicht als Sympathieträgerin. Er gilt als kluger, seriöser, netter Mensch, aber nicht als charismatisch. Vieles wird davon abhängen, wer ins jeweils andere Lager vorstoßen kann. Die Chancen sind gut; die Basis sehnt sich nach Konsens und Gemeinschaftssinn.

In der TV-Debatte ging es einmal mehr um den Vorwurf des Antisemitismus

Derzeit reisen die Bewerber quer durchs Land und stellen sich vor. Fragen und Antworten ähneln sich, Späße sind erlaubt. Für welchen Fußballklub seid ihr? Starmer hat eine Dauerkarte bei Arsenal, das kommt gut an. Thornberry sagt: "Ich kann Fußball nicht leiden." Punktsieg für Offenheit. Ansonsten viele Allgemeinplätze: Wie wollt ihr Wähler zurückgewinnen? - "Mehr zuhören". Wie wollt ihr mit dem Brexit umgehen? - "Akzeptieren und mitgestalten." Lisa Nandy sagt als einzige deutlich, dass sie den Corbyn-Kurs falsch fand: zu linksalternativ, zu abgehoben, zu radikal. Long-Bailey muss den Eindruck erwecken, dass sie als Corbyn-Vertraute ihren eigenen Kopf hat. Starmer muss zeigen, dass er als Remainer die Brexit-Fans in der Partei nicht für Dummköpfe hält. Es ist ein permanenter Spagat - für alle Beteiligten.

Am Mittwoch maßen sich die vier schließlich in einer ersten TV-Debatte vor einem Millionenpublikum. Vor allem ein kurzer Schlagabtausch wird in Erinnerung bleiben. Es ging, wie so oft, um den Vorwurf des Antisemitismus in der Labour Party und darum, wer dagegen aufgestanden sei. Thornberry stellte schnippisch fest, Starmer und sie hätten sich immer wieder für eine schärfere Gangart im Kampf gegen Antisemitismus ausgesprochen. Long-Bailey warf ein: "Ich auch, wenn du dich erinnern möchtest", woraufhin Thornberry konterte: "Ich kann mich nicht erinnern." Der Kampf vor den Kulissen hat begonnen.

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