"Nach zehn Jahren Bundestag sind Sie nicht mehr resozialisierbar":Abschied von der Bedeutsamkeit

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Kurz vor den Neuwahlen klärt sich, wer auf eine Kandidatur verzichten will - die Motive der Politiker für ihren Rückzug sind sehr unterschiedlich.

Von Annette Ramelsberger

Es ist eine Maschine. Eine Maschine, die wie geschmiert läuft, deren Rädchen geräuschlos ineinander fassen, eine Maschine, die nicht Gummibärchen produziert, Reißzwecken oder Pillenschachteln - sondern Gesetze.

Stühle, die die Welt bedeuten. Gibt es eine Welt nach "Bundestag"? (Foto: Foto: ddp)

Das Regelwerk, das unseren Staat zusammenhält. Die Maschine steht in Berlin am Ufer der Spree, mit Blick aufs Kanzleramt. Man nennt sie Bundestag. Für ihre Mitarbeiter aber produziert die Maschine noch viel mehr als Gesetze: Sie produziert Sinn. Der Bundestag ist eine riesengroße Bedeutungsmaschine.

"Nach zehn Jahren Bundestag sind Sie für das normale Leben nicht mehr resozialisierbar", sagt Wolfgang Bötsch, 66. Der Mann war mal Postminister, damals unter Helmut Kohl.

Kaum einer weiß, dass er noch immer im Bundestag sitzt - seit 29 Jahren nun. Im Auswärtigen Ausschuss macht er noch mit, manchmal sieht man ihn in der bayerischen Vertretung beim Bier sitzen. Jetzt wird er abtreten.

Abschiedsschmerz? "A bissele", sagt der Franke. Seine Abgeordnetenwohnung an der Wilhelmstraße (73 Quadratmeter, 700 Euro warm) hat er sofort nach Ankündigung der Neuwahl gekündigt: nur nicht zu lange Miete zahlen. Bötsch ist für seine Sparsamkeit bekannt.

Was soll ein Mann zuhause, der seit dreißig Jahren seine Wochen in Bonn und Berlin verbracht hat? Rasen mähen etwa? Dann lieber Herzinfarkt: Bötsch arbeitet für eine Rechtsanwaltskanzlei in Frankfurt, ist Aufsichtsratsvorsitzender bei der Firma Com & Con AG in Grünwald, Aufsichtsratsmitglied bei einer Logistikfirma, Präsident der Bundesvereinigung Deutscher Musikverbände und hat noch vier Beraterverträge. Man fragt sich, was er neben seinen vielen Jobs eigentlich noch im Bundestag getan hat.

Heimelige Vertrautheit

Vermutlich ist es nur die heimelige Vertrautheit, die manchen noch hält. Das gute Gefühl, aufgeräumt zu sein. Da sind die Sitzungswochen, das Gerüst des Jahreskalenders.

Am Montag treffen sich die Parteispitzen, am Dienstag die Fraktionen, Mittwoch ist Hauptkampftag in den Ausschüssen, Mittwoch, Donnerstag und Freitag Bundestagsplenum. Man trifft sich in der Parlamentarischen Gesellschaft, in den Landesvertretungen, bei Podiumsdiskussionen.

Wer will, kann in Berlin jeden Abend auf drei Veranstaltungen gehen und sich wichtig fühlen. Zuhause im Wahlkreis ist man es ohnehin: Der Herr Bundestagsabgeordnete übernimmt die Schirmherrschaft, die Frau Bundestagsabgeordnete spricht die Grußworte beim örtlichen Volksfest. "Es gab keinen Festzug zwischen April und Oktober, bei dem ich nicht dabei war", sagt Bötsch.

Keine Lust auf die Kollegen

So etwas gibt Halt im Leben. Und dann der theoretische Überbau: Wenn der Parlamentarier ans Rednerpult des Bundestags tritt, dann weiß er, dass er jetzt nicht nur klug daherredet, sondern dass er seiner wichtigen Aufgabe als Volksvertreter nachkommt.

Dass er nicht nur seine Meinung sagt, sondern dem Wählerwillen Ausdruck verleiht. Dass er nicht nur gegen seinen Lieblingsfeind von "den anderen" holzt, sondern seinen Beitrag zur politischen Willensbildung leistet.

So was hebt das Selbstbewusstsein. Und deswegen kämpfen selbst noch Abgeordnete, die seit den siebziger Jahren im Bundestag sitzen, mit Zähnen und Klauen darum, noch einmal aufgestellt zu werden.

Es sind ganz unterschiedliche Typen, die die große Bedeutungsmaschine verlassen. Die einen gehen, weil sie sich nichts mehr erwarten und sich die eigenen Kollegen nicht mehr antun wollen - wie der frühere Verteidigungsminister Volker Rühe, der es sich mit seiner Partei, der CDU, nachhaltig verdorben hat, weil er unbeirrt für den EU-Beitritt der Türkei eintritt.

Oder sein Nachfolger im Amt, Rudolf Scharping von der SPD, der schon die letzten Jahre nur noch wie ein Gast im Bundestag aussah. Seine Gefühle, wenn er nun Abschied nimmt? Scharping hält seine Erlebnisse für "eine ganz eigene Geschichte".

Er will, dass man sich Zeit für ihn nimmt. Er hat sie ja auch. Oft ist er jetzt nicht mehr zu sehen. "Ich weiß gar nicht, in welchem Ausschuss der ist", sagt eine SPD-Kollegin.

Vergangene Zeit

Scharping sitzt - wie Bötsch - im Auswärtigen Ausschuss. Zur Feier des 50. Jahrestags der Bundeswehr kam er diese Woche, doch er wirkte wie ein Mann aus einer längst vergangenen Zeit.

Dann gibt es welche, die gehen, um etwas zu werden. Ute Vogt (SPD), die Parlamentarische Staatssekretärin im Innenministerium, geht ganz nach Baden-Württemberg. Sie soll einmal die Gegenspielerin von Ministerpräsident Günther Oettinger (CDU) werden - der Abschied vom Bundestag ist bei ihr eine Langfrist-Investition in die politische Karriere.

Oder auch Hans Martin Bury von der SPD, 39, der schon mit 33 Jahren Staatsminister im Kanzleramt wurde. Er will jetzt Karriere außerhalb der Politik machen, richtige Karriere.

Andere Parlamentarier entscheiden sich für ihre Nebentätigkeiten und gegen das Bundestagsmandat - etwa Hans-Peter Repnik, der Chef des Entsorgungsunternehmen Duales System. Er hatte wegen seiner gut bezahlten Nebentätigkeit heftige Diskussionen ausgelöst.

Und auch Reinhard Göhner (CDU) hat sich gegen das Mandat und für seinen Job als Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände (BDA) entschieden. Eine kühle Interessen-Abwägung eben.

Andere leiden wie ein Hund. Dieter Thomae, der Gesundheitsexperte der FDP zum Beispiel. Der Mann hatte vor ein paar Monaten eine schwere Herzoperation, aber eigentlich sehnte sich alles in ihm danach, weiter Politik zu machen.

"Ich habe sehr lange mit mir gerungen", sagt Thomae, demnächst 65. Er sei "Politiker bis in den letzten Haarzipfel", sagt er und sprüht noch immer. Wie er damals das Gesetz über Organtransplantationen angeschoben, das Psychotherapeutengesetz durchgepaukt habe, wie er auf dem FDP-Parteitag in Dresden 2004 einstimmig sein Gesundheitskonzept durchbekam.

Der Mann ist kaum zu bremsen. 19 Jahre ist Thomae jetzt im Bundestag, er kann sich nichts Schöneres vorstellen. Dass er jetzt geht, ist eine Vernunftentscheidung, und sie fällt ihm unendlich schwer. "Schwer ist gar kein Ausdruck", sagt er leise.

Ihr Mann hat sie bekocht, wenn sie spätabends vom Wahlkampf nach Hause kam, er hat ihre Jacketts zum Reinigen gebracht, er hat den Haushalt geschmissen, obwohl auch er immer voll im Beruf war.

"Was zurückkriegen"

"Ich bin seit 17 Jahren im Bundestag, und mein Mann hat mir die ganze Zeit den Rücken frei gehalten", sagt Cornelie Sonntag-Wolgast (SPD). "Jetzt muss er auch mal was zurückkriegen."

Die Vorsitzende des Innenausschusses und frühere Parlamentarische Staatssekretärin im Innenministerium hätte gern behutsam Abschied genommen vom Bundestag, nun muss alles schnell gehen.

An den Aufbau einer jungen Nachfolgekandidatin ist kaum zu denken, es bliebe ja keine Zeit für die Vorstellungstour durch die Parteigliederungen. Also wird vermutlich jemand kandidieren, den die Partei schon kennt.

"Durch diese Vollbremsung von Schröder und Müntefering wird ein Generationenwechsel nicht leichter", sagt Sonntag-Wolgast. Sie fühlt sich nicht müde, nicht mürbe, nicht enttäuscht. Sie will nur jetzt mit 63 "mehr Freizeit, mehr Privatleben, mehr Ehemann". Mitte 40 war sie schon, als sie in die Politik ging. Nun geht sie wieder. Genau so entschieden.

Es scheint eine Entwicklung zu geben, weg vom "politischen Tier", das mit allen Fasern seines Herzens am Politiker-Job hängt, hin zu Mandatsträgern, für die es noch ein Leben nach dem Amt gibt.

Es gibt nun politische Menschen, die es nicht mehr in Kauf nehmen, dass ihnen die eigenen Kinder fremd werden und der Partner abhanden kommt. Es gibt sogar Politiker, die sagen, sie möchten einfach mal wieder Gitarre spielen.

"Ich selber bin auch noch da"

Vor ein paar Tagen haben sie Albert Schmidt noch bestürmt im Presseclub in Augsburg. Dass er doch nicht einfach aufhören könne, was für ein Fachwissen da verloren gehe, wer ihnen denn jetzt die Bahn erkläre.

Der Grünen-Abgeordnete und Bahnexperte hat freundlich gelächelt. Geändert hat er seinen Entschluss nicht. Er, den man nachts um 12 Uhr aus dem Tiefschlaf reißen konnte und der dennoch die Argumente gegen den Bahntunnel durch den Thüringer Wald druckreif herunterratterte, hört einfach auf. "

Ich will mich nicht im Dienst des Vaterlands verzehren", sagt er. Schmidt fängt noch einmal ganz neu an, er will sich selbständig machen als Coach und Persönlichkeitsberater.

Vor zwei Jahren hatte Schmidt, 54, einen kleinen Schlaganfall. Er hat ihn überstanden, hat hart gearbeitet, alle Fähigkeiten wieder zu gewinnen. Nun ist er wieder fit.

"Und gerade weil ich wieder gesund bin, finde ich, dass ich daraus was machen sollte. Ich selber", sagt Schmidt, "bin doch auch noch da."

© SZ vom 11.6.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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