Süddeutsche Zeitung

Nach Unfällen in Tricastin:Pannen heizen Debatte an

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Sauber, sicher und vor allem kein Anlass zur Diskussion - das galt bislang für die Atomkraft in Frankreich. Doch nachdem sich Störmeldungen häufen, kommen nun auch Sorgen und Proteste an die Oberfläche.

Varinia Bernau

Solch eine Frage können nur Kinder stellen. Sie klingt ganz einfach und ist doch so schwer zu beantworten. "Mama, wie ist es eigentlich, auf zwei Beinen zu laufen?", hatte Clément Larrivé gefragt. Er wusste es nicht. Er hat nur eins. Dass er in jener südfranzösischen Region aufwuchs, aus der nun die neuesten Störmeldungen der Atomanlage Tricastin kommen, dass seine Mutter auf dem Weg zur Arbeit zweimal ein ähnliches Werk passieren musste - das erzählt er ganz beiläufig. So als wolle er es dem Zuhörer überlassen, einen Zusammenhang herzustellen.

Clément Larrivé ist einer von etwa 20 Leuten, die dem Aufruf der französischen Zeitung Le Monde folgten und davon berichten, wie es ist, in der Nähe eines Kernkraftwerks zu leben. Eine Sorge taucht in fast allen Schilderungen auf: Woher kann man wissen, was wirklich los ist? Wie gelangt man an objektive Informationen?

Frankreich deckt mehr als drei Viertel seines Energiebedarfs mit der Kernkraft. Das Land mit seinen 19 Kraftwerken und 58 Reaktoren gilt zudem weltweit als einer der größten Exporteure von Atomstrom. Der atomare Sektor war lange Zeit der Stolz der Franzosen, der kaum zur Debatte stand. Doch nun entwickelt sich eine Diskussion - parallel zu den Meldungen über die Pannenserie in den Atomanlagen des Landes. Jüngste Nachricht: Nach einem Leck in einem Reaktor der Atomanlage Tricastin in Südfrankreich wurden am Mittwoch 100 Beschäftigte "leicht kontaminiert", wie der Stromkonzern EDF mitteilte. Jüngste Reaktion: "Der Vorfall stellt die Atomindustrie in Frage", erklärte die Anti-Atomkraft-Bewegung "Sortir du nucléaire" umgehend in einer Stellungnahme.

Für Atomkraftgegner ist die Reihe von Störfällen ein gefundenes Fressen - vor allem zu einem Zeitpunkt, zu dem Frankreichs Staatspräsident Nicolas Sarkozy auf Kernenergie setzt. Zu Beginn des Monats hatte er seinen Willen erklärt, einen zweiten Reaktor des deutsch-französischen Typs EPR zu bauen, obwohl nicht alle Stromkonzerne das für notwendig halten. Vor dem Hintergrund einer immer hitziger geführten Klimadebatte ließ sich Atomenergie als saubere Alternative verkaufen.

Franzosen halten Klimawandel für gefährlicher als AKWs

Einer zu Wochenbeginn veröffentlichten Umfrage zufolge, sorgen sich die Franzosen um die Sicherheit der Atomkraftwerke weit weniger als um die Auswirkungen des Klimawandels. Die Umfrage machte einen Bewusstseinswandel deutlich: Vor sechs Jahren waren nur 52 Prozent der Befragten der Ansicht, dass man den atomaren Sektor stabil halten muss, um die Unabhängigkeit in Energiefragen zu bewahren. 47 Prozent hielten die Atomenergie für gefährlich. Inzwischen setzen 67 auf Atomstrom, nur noch 33 Prozent sind dagegen.

Dennoch: Vier von fünf Franzosen halten die Störungen in der Atomanlage Tricastin für gefährlich. Trotz des verlängerten Wochenendes um ihren Nationalfeiertag, das die Franzosen gern für Ausflüge nutzen, kamen 7000 Menschen zur Demonstration nach Paris, zu der das Netzwerk "Sortir du Nucléaire" Mitte Juli aufgerufen hatte.

Erstmals Klage von Anwohnern

Und manche mischen sich aktiv in die Debatte ein: So hat eine Anwohnerin nahe Tricastin Ende vergangener Woche eine Klage gegen unbekannt eingereicht. Elisabeth Serinian lebt mit ihrer Familie einige hundert Meter entfernt von dem Gewässer, das für die Kühlung der Reaktoren genutzt wird und gleichzeitig die Wasserversorgung für die Anwohner speist. Nach Angaben von Serinian wurden bis zu 70 Mikrogramm Uran pro Liter im Trinkwasser ihres Haushalts nachgewiesen. Der von der Weltgesundheitsorganisation vorgegebene Grenzwert liegt bei 15 Mikrogramm pro Liter.

Solch eine Klage gab es nie zuvor. Auch die Reaktionen auf den ersten Störfall in Tricastin Anfang Juli wurden als ungewöhnlich heftig wahrgenommen. Die Forderung der Atomaufsichtsbehörde ASN, die Anlage teilweise zu schließen, war ein Novum. Die Weisung des Umweltministers Jean-Louis Borloo, alle Gewässer um französische Atomanlagen zu untersuchen, zumindest ungewöhnlich. Die Zeitung Libération deutet die Umsicht des Ministers als Ablenkungsmanöver: Er wolle die Umweltverbände gnädig stimmen, da für sein Prestigeprojekt Grenelle, ein Aktionspaket, das das Land in den kommenden 20 Jahren umweltfreundlicher machen soll, wohl kaum genügend Geld zur Verfügung stehe.

Nach Recherchen der Zeitung Libération sind die Störfälle in französischen Atomanlagen von der Größenordnung des Falles Tricastin im vergangenen Jahr zwar im Vergleich zum Vorjahr um ein Drittel zurückgegangen. Gestiegen ist jedoch die öffentliche Aufmerksamkeit. Den Franzosen genügt es nicht mehr, dass die Anlagen sicher sind. Die Kontrolle muss auch transparent sein. Und so werden die Atomkraftgegner sicher nicht müde, daran zu erinnern, dass es im vergangenenen Jahr aus den Anlagen immer noch 86 Störmeldungen der Kategorie 1 (auf einer Skala von 0 bis 7) gab.

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