Nach tödlichen Krawallen in Ägypten:"Die Polizei stand einfach da und hat zugeschaut"

Wer steckt wirklich hinter den tödlichen Fußballkrawallen in Ägypten? Das alte Regime oder einfach nur gewaltbereite Fans? Einen Tag nach dem schlimmsten Gewaltexzess in der Geschichte des ägyptischen Fußballs mit mindestens 70 Toten fragt sich das Land, wie es dazu kommen konnte. Schwere Vorwürfe gibt es auch gegen die Sicherheitskräfte.

Die Krawalle beginnen unmittelbar nach dem Schlusspfiff. Plötzlich stürmen Fans des heimischen Klubs Al-Masry auf den Rasen und machen Jagd auf Spieler von Al-Ahly. Sie sind mit Messern, Knüppeln und Steinen bewaffnet, Flaschen und Feuerwerkskörper fliegen, bald gleicht das Stadion einem Hexenkessel. Spieler und Anhänger des Gästeklubs aus Kairo flüchten in Panik.

Doch nicht alle entkommen - zahlreiche Menschen werden erstochen, andere ersticken auf der Flucht. Ein Korridor am Stadionausgang erweist sich als Falle, am anderen Ende sind die Türen verschlossen. Der Augenzeuge Ahmed Ghaffar berichtet auf Twitter, dass Menschen "übereinandergestapelt" versuchten, das Stadion durch den Korridor zu verlassen. "Wir hatten die Wahl zwischen dem Tod, der uns von hinten verfolgte und verschlossenen Türen."

Die traurige Bilanz des Blutbads mitten in einem Fußballstadion im nordägyptischen Port Said verkündet am Donnerstagnachmittag das ägyptische Innenministerium: 78 Tote, unter ihnen ein Polizist. Weitere 248 Menschen seien verletzt worden. Die Sicherheitskräfte hätten 47 Randalierer festgenommen. Doch genau gegen jene Sicherheitskräfte und ihre mutmaßliche Nachlässigkeit protestieren am Tag nach den Krawallen die Menschen in Kairo - auf Fernsehbildern ist zu sehen, dass die schwarzgekleideten Männer meist untätig umherstanden.

Der Kairoer Blogger und Aktivist Ahmad Aggour ist wütend. Auch er hat die ganze Nacht getwittert. Er war nicht selbst im Stadion von Port Said und ist doch direkt betroffen: "Einer meiner Freunde ist dort gestorben", teilt er Süddeutsche.de per Skype mit. Mit Messern, Taschenlampen und sogar Gewehren seien die angeblichen Fans vorgegangen. Aggour kann es noch nicht fassen. "Die Polizei stand einfach da und hat zugeschaut - und die Armee hat die Ausgänge zugemacht, das war ihre Auffassung davon, sie zu sichern." Die Polizei gilt seit der Revolution als Erfüllungsgehilfe des alten Regimes.

Vor dem Gelände des Fußballvereins Al-Ahly skandieren Aktivisten aber nicht nur Parolen gegen die Sicherheitskräfte, sondern auch gegen den regierenden Militärrat. Viele sind sich sicher: Diese Krawalle waren politisch motiviert. Steckt also mehr hinter den Fan-Ausschreitungen? Das alte Regime des gestürzten Machthabers Hosni Mubarak oder die neue Militärregierung?

Blogger Aggour nennt es das Taktieren einer Diktatur: "Chaos erzeugen, die Angst der Menschen ausnutzen - um sie ihrer Vernunft und ihres Gemeinschaftssinns zu berauben." Er twittert noch ein letztes Mal, dann macht er sich auf den Weg zu den Aufmärschen, die sich spontan in Kairos Innenstand gebildet haben - im Gedenken an den gestrigen Abend.

"Diese Tragödie ist ein Ergebnis vorsätzlicher Zurückhaltung"

Die islamistische Muslimbruderschaft kritisiert, dass sich die Sicherheitskräfte bei dem Fußballspiel mitschuldig am Tod von Menschen gemacht hätten. Das sagt der Abgeordnete Essam el Erian. "Diese Tragödie ist ein Ergebnis vorsätzlicher Zurückhaltung von Soldaten und Polizisten."

Die Sicherheitskräfte bieten eine andere mögliche Erklärung: Nach den Zusammenstößen zwischen Polizei und Demonstranten mit mehr als 40 Toten im November habe das Innenministerium seinen Leuten Befehl gegeben, sich nicht mit Zivilpersonen "anzulegen".

Die Bewegung des 6. April, die mit ihren Massenprotesten vor einem Jahr den Sturz Mubaraks herbeigeführt hatte, macht die herrschenden Generäle für das Blutvergießen verantwortlich. Sie verursachten Chaos, um die Revolution zu diskreditieren und die Ägypter davon zu überzeugen, dass das Land ohne den Militärrat nicht zu regieren sei. Vorgesehen ist, dass die Generäle um Feldmarschall Mohammed Hussein Tantawi die Macht bis Ende Juni an einen neu gewählten Präsidenten abgeben.

Die Jugendbewegung des 6. April fragt nun in einer schriftlichen Erklärung: "Ist es logisch, dass eine Truppe, die in der Lage war, eine Parlamentswahl in neun Provinzen zu sichern, nicht in der Lage ist, ein Fußballspiel zu sichern, bei dem Scharmützel zwischen den Fans zu erwarten sind?" Die Rivalität zwischen den beiden Fußballteams hat lange Tradition, gewalttätige Ausschreitungen - wenn auch in einem geringeren Ausmaß - waren also zu erwarten.

Rache an den Ultras?

Al-Ahlys Trainer Manuel José ist überzeugt: "Die Schuld hat einzig und allein die Polizei. Es waren Dutzende im Stadion, aber die waren plötzlich alle verschwunden oder haben gar nichts unternommen", sagt er dem portugiesischen TV-Sender SIC. Ein Fanklub von Al-Ahly wirft Sicherheitskräften und Fans von Port Said vor, sich für die Rolle der Kairoer "Ultras" während der Revolution, die im vergangenen Jahr zum Sturz von Präsident Hosni Mubarak führte, rächen zu wollen. "Sie wollen uns dafür bestrafen, dass wir an der Revolution gegen die Unterdrückung teilgenommen haben", heißt es in einer Erklärung.

People gather around a train as they wait for the arrival of those wounded during clashes in Port Said stadium, at Ramses metro station in Cairo

Am Ramses-Bahnhof von Kairo warten Menschenmengen auf die Ankunft der Fußballfans, die am Vorabend beim Blutbad von Port Said verletzt worden sind.

(Foto: REUTERS)

Viele Fans von Al-Ahly sind Ultras. Diese Ultras sind seit Beginn der Revolution vor einem Jahr auch politisch aktiv - gegen das altes Regime. Im Fernsehsender al-Dschasira erklärte Alaa Abd El-Fatah, ein prominenter ägyptischer Blogger im vergangenen Jahr, auf die Frage, wie sich die Demokratiebewegung zusammensetze: "Die Ultras haben eine bedeutendere Rolle gespielt als jede andere politische Gruppe." Tagelang hätten die Fans des Kairoer Fußballklubs Al-Ahly den Tahrir-Platz gegen Polizei und Geheimpolizei verteidigt. Ein anderer Al-Ahly-Ultra sagte damals: "Da es keine politischen Auseinandersetzungen mehr gab, hat sich das alles auf den Fußballplatz verlagert."

Ein für die öffentliche Sicherheit zuständiger Militärvertreter, Ahmed Gamal, weist derweil in der Tageszeitung Al-Tahrir jegliche Schuld zurück. Es habe einen guten Sicherheitsplan bei dem Fußballspiel gegeben. Doch der Gewaltausbruch nach Abpfiff sei nicht mehr einzudämmen gewesen. Er vergleicht die Ereignisse mit dem Beginn der heftigen Massenproteste am 25. Januar vor einem Jahr gegen Mubarak.

Vorstand des Fußballverbands aufgelöst

Das neu gewählte ägyptische Parlament trat wegen des "Massakers" am Donnerstag in Kairo zu einer Krisensitzung zusammen. Ministerpräsident Kamal al-Gansuri löste den Vorstand des Ägyptischen Fußballverbands auf. Die Mitglieder des Gremiums sollten von der Staatsanwaltschaft verhört werden, sagte er. Zudem hätten der Gouverneur der Provinz Port Said und der Polizeichef der Region ihren Rücktritt erklärt.

Das neue Parlament versprach eine zügige Aufklärung der Ereignisse. Die Abgeordneten beauftragten ein Gremium mit den Ermittlungen. In einer Woche soll der Bericht vorliegen. Der Vorsitzende des Militärrats verkündete über die Internetplattform Facebook drei Tage der nationalen Trauer. Bis Samstag soll der Opfer der Krawalle gedacht werden.

Eine lokale Fernsehstation ruft unterdessen zu Blutspenden auf. Um die Schwerstverletzten besser in Kairo behandeln zu können, entsendete die ägyptische Luftwaffe zwei Flugzeuge nach Port Said an der Mittelmeerküste.

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