Süddeutsche Zeitung

Polizei-Einsatz gegen Flüchtlinge:Ellwangen, drei Monate danach

Der Ort war Schauplatz eines Polizei-Großeinsatzes gegen Flüchtlinge. Nun fragen sich die Leute, ob sie die große Asyl-Unterkunft noch haben wollen. Dabei funktioniert das Zusammenleben erstaunlich gut.

Von Thomas Hummel, Ellwangen

Ein paar Meter abseits der Bundesstraße 290 steht der Schlagbaum. Ein Zaun umschließt das Gelände, der Stacheldraht ist gespannt. Mitarbeiter einer Security-Firma öffnen das Eisentor erst nach Prüfung der Person. Die Flüchtlingsunterkunft Ellwangen begrüßt ihre Gäste kühl. Sie hat den Charme einer ehemaligen Kaserne, jahrzehntelang beherbergte der Ort Soldaten und Kriegsgerät. Jetzt leben hier Menschen, die vor Gewalt, Zerstörung, Armut geflohen sind. Der Ort trägt den sperrigen deutschen Namen "Landeserstaufnahmestelle".

Einmal drinnen, beginnt die Stille. Menschen unterschiedlichster Hautfarbe stehen an diesem heißen Vormittag im Schatten unter den Bäumen und blicken auf ihre Smartphones. Ein Mann trägt einen Wäschesack über die Straße, eine Frau nutzt dafür einen Einkaufswagen. Im Kindergarten trägt ein Junge einen kleinen Korb schief auf dem Kopf als Hut und verhandelt mit den Kumpels, ob sie nun im Sand graben oder am Gerüst klettern wollen. Alle grüßen, sagen "Hallo" oder "Guten Morgen". Die Landeserstaufnahmestelle, die alle nur Lea nennen, wirkt sehr friedlich. Leiter Berthold Weiß sagt: "Das Leben fließt hier sehr ruhig."

Es ist nicht lange her, da herrschte ein Lärm, der durch die ganze Republik hallte. Anfang Mai waren Mannschaftsbusse der Polizei mit mehreren Hundert Beamten angerückt. Ellwangen stand für Widerstand gegen die Staatsgewalt, einen "Schlag ins Gesicht der rechtstreuen Bevölkerung", wie es Bundesinnenminister Horst Seehofer ausdrückte. Weil die Rückführung eines Togoers nach Italien am Protest der Mitbewohner gescheitert war, zeigte der Staat, wer der Stärkere ist. Die Polizei trat Türen ein, fesselte Männer mit Kabelbindern, durchsuchte Häuser. Sie führte den Mann aus Togo ab, kontrollierte fast 300 Bewohner, kündigte Ermittlungen wegen Drogendelikten, Diebstahls und Hausfriedensbruchs an. Drei Monate später heißt es in der Lea, die Beamten hätten nicht mehr gefunden als bei einer Razzia in einem Schullandheim. Kleinigkeiten, kaum der Rede wert.

Einrichtungsleiter Berthold Weiß sitzt auch für die Grünen im Gemeinderat, sieht sowohl beruflich wie privat die Unterbringung von Flüchtlingen in der Lea positiv. Er sagt: "Was mich bis heute in Wallung bringt, ist die Behauptung, hier habe es einen rechtsfreien Raum gegeben. Als ich das gehört habe, da dachte ich mir schon: Hoppla!" Er achte streng darauf, dass die Regeln eingehalten werden. So erhalte sein Vorgesetzter im Regierungspräsidium Stuttgart E-Mails, wenn in Ellwangen was nicht stimme. Der wundere sich dann über Meldungen, weil ein Bewohner an der Pforte mit zwei Flaschen Bier erwischt wurde, was gegen das Alkoholverbot verstößt. "Das ist bei uns schon ein Vorfall", sagt Weiß und macht große Augen, "ich habe das Gefühl, dass wir hier von Politikern instrumentalisiert worden sind".

Anfangs kamen die Leute vor allem aus Syrien, darunter viele Familien

Für die CSU etwa war der Polizeieinsatz ein Mosaikstein im großen Angriff auf die Flüchtlingspolitik der Kanzlerin. Er passte ins Bild eines angeblich zu laschen Umgangs mit Asylbewerbern, die sich nun noch erdreisten, sich gegen die Polizei aufzulehnen.

In Ellwangen hat der Tag Eindruck hinterlassen. Mit dem großen Polizeieinsatz kam die Unsicherheit in die Stadt. "Bürger fragten kritisch: Können wir uns hier noch sicher fühlen", erzählt Oberbürgermeister Karl Hilsenbek. Der parteilose Politiker wurde vor allem im Internet übel beschimpft, bekam anonyme Drohungen per Mail. Herbert Hieber, Gemeinderat der SPD und ehrenamtlicher Deutschlehrer in der Lea, erhielt einen Anruf: "Sie wollen in Ellwangen das Kalifat einführen", sagte jemand und legte wieder auf. All jene, die für die Einrichtung kämpfen und sich dort engagieren, fürchten, dass der Vorfall in der Bevölkerung die Stimmung kippen ließ. Hilsenbek forderte mehr Polizei für die Lea und die Stadt an, um das Sicherheitsgefühl zu stärken. Heute glaubt er: "Das ist gelungen."

Ellwangen (Jagst) liegt am östlichen Rand von Baden-Württemberg, der Ort mit 24 000 Einwohnern ist konservativ und katholisch geprägt. Eine Wallfahrtskirche thront am Schönenberg über der Stadt, seit 1830 gibt es die Marienpflege für Kinder in Not, die katholischen Comboni-Missionare betreiben einen Standort. Hilfsbereitschaft hat Tradition und als Ende 2015 4700 Flüchtlinge in der Lea wohnten, bewältigten Angestellte sowie Hunderte Freiwillige die Situation mit einer Mischung aus Enthusiasmus, Fleiß und schwäbischem Ordnungssinn. Seither lebt Ellwangen mit Ankömmlingen aus aller Welt. Von der Unterkunft bis zur Stadtgrenze sind es nur zwei Kilometer, der Bus 303 bringt die Menschen zum Einkaufen in die Innenstadt oder einfach nur, um einmal aus der alten Kaserne rauszukommen. Anfangs kamen die Leute vor allem aus Syrien, darunter viele Familien. Die Ellwanger, so heißt es, mochten die Syrer.

Zuletzt zählte die Lea laut Stadtinfo 582 Bewohner, die Lage hat sich zahlmäßig beruhigt. Davon stammt nun ein großer Teil aus der Subsahara - aus Nigeria, Kamerun, Togo, Guinea. Die meisten sind allein reisende Männer. Ihre Aussicht auf Asyl ist minimal, sie sitzen monatelang in Ellwangen und hoffen auf einen positiven Bescheid und den Transfer in eine andere Unterkunft. Ohne Arbeit, meist ohne Familien, mit 130 Euro Taschengeld im Monat. Zwei bis drei Mal pro Woche kommen Polizisten und holen jemanden ab, immer mitten in der Nacht. Seit dem Vorfall mit dem Togoer kommen sie mit mehr Beamten und haben Hunde dabei. Es geht dann meist um die Rückführung nach Italien, wo viele ihr Asylverfahren absolvieren müssen, die Zustände in den Lagern aber schlimm sind. Oder um Abschiebung ins Heimatland. Berthold Weiß sagt: "Die Leute haben riesige Angst davor." Eine Frau aus Nigeria erzählt, dass viele ihrer Mitbewohner nachmittags schlafen und sich nachts in den Wäldern verstecken.

In einer umgebauten Lagerhalle bietet die Lea Kurse für ihre Bewohner an. Damit sie was zu tun haben und was Neues lernen. In einem Raum findet ein Erste-Hilfe-Kurs statt, im Zimmer daneben lehrt Mahmoud Qawasmi, ein Jordanier und Dozent für Deutsch als Fremdsprache. Heute geht es um bestimmte und unbestimmte Artikel vor dem Nomen und warum die Endung der Adjektive sich ändert. Hier "das blaue Haus", dort "ein blaues Haus". Feinheiten der deutschen Grammatik. Die Schüler kommen aus Afrika und Tschetschenien, sie notieren eifrig mit und sind offenbar ernsthaft gewillt, diese verflixten Endungen zu lernen. "Das neue Haus" - "ein neues Haus".

Die Flüchtlinge schwärmen davon, wie nett die Leute in der Lea seien und auch in der Stadt

Der Kurs heißt: "Erstorientierung und Wertevermittlung für Asylbewerber mit unklarer Bleibeperspektive". Womit das Dilemma benannt ist: Ob sie deutsche Artikel und Adjektive dauerhaft brauchen werden, weiß hier niemand. Lehrer Qawasmi sagt: "Ich habe mehrmals erlebt, dass heute einer hier sitzt und morgen weg ist." Zum Beispiel der 23-jährige Togoer, der die Aufregung Anfang Mai ausgelöst hat. "Ein ganz ruhiger Typ."

Der Frust steigt inzwischen bei vielen. Bei Flüchtlingen ob ihrer unklaren Lage. Bei den mehr als hundert Ehrenamtlichen, weil sich immer mehr fragen, ob das alles einen Sinn hat. Außerdem erzählen selbst liberal eingestellte Bürger von Freunden, die sich abends beim Spaziergang am Fluss Jagst oder in der Bahnhofsunterführung unwohl fühlen, wenn ihnen eine Gruppe schwarzer Männer begegnet. Manche beklagen sich über Flüchtlingsgruppen, die morgens Bier trinkend in der Innenstadt sitzen. Abgesehen von kleineren Diebstählen und zahlreichen lauten Telefonaten - wonach die Stadt das freie Wlan zeitweise abschaltete - gab es aber kaum ernsthafte Probleme. Oder gar schwere Straftaten.

Selbst Gunter Frick sagt, das subjektive Sicherheitsgefühl der Leute sei schlechter, als es die objektive Lage hergebe. Dabei haben sich Frick und seine Gemeinderatsfraktion der Freien Bürger positioniert: Die Lea soll bald geschlossen werden. Anfang 2020 läuft der Vertrag aus, dann soll Schluss sein. Ein Argument sei die Präsenz der Flüchtlinge in der Stadt, doch das sei nachrangig. Viel schlimmer: "Wir haben kein Vertrauen mehr in unsere Vertragspartner." Das Land Baden-Württemberg und der Ostalbkreis hätten ihre Versprechungen nicht eingehalten.

So sei Ellwangen als Gegenleistung eine Gesundheits- und Pflegeakademie in Aussicht gestellt worden. Oder gar die Außenstelle einer Hochschule. "Doch passiert ist gar nix", klagt Frick. Als zuletzt Landwirtschaftsminister Peter Hauk von der CDU erklärte, Ellwangen erhalte die Landesgartenschau, wenn der Lea-Vertrag verlängert werde, kochten die Emotionen hoch. Frick nennt das Vorgehen "perfide", sogar SPD-Mann Hieber spricht von einer "politischen Geisterfahrt". Der Minister musste zurückrudern, aber die Aussage hat die Stimmung in Ellwangen fast mehr verschlechtert als der große Polizeieinsatz Anfang Mai. Weil die Regierung in Stuttgart verspricht, dass sie dem Votum des Gemeinderats folgen werde, halten die Ortspolitiker viele Trümpfe in der Hand. So fordert Oberbürgermeister Hilsenbek etwa, das Polizeirevier Ellwangen solle dauerhaft mehr Personal erhalten.

Und die Flüchtlinge? Im Deutschkurs bei Lehrer Qawasmi schwärmen sie davon, wie nett die Leute in der Lea seien und auch in der Stadt. Sie fühlen sich hier wohl. Die Frau aus Nigeria sagt: "Wir wollen nur, dass wir in Deutschland bleiben dürfen. Das ist alles, worum wir bitten."

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