Süddeutsche Zeitung

Nach Putsch in Ägypten:Massenproteste enden in Chaos und Gewalt

Die Proteste gegen den Militärputsch in Ägypten eskalieren: Anhänger und Gegner des festgenommenen Präsidenten Mursi liefern sich in Kairo Straßenschlachten. Soldaten eröffnen das Feuer auf Anhänger der Muslimbrüder. Landesweit werden zahlreiche Menschen getötet. Überraschend erscheint der oberste Muslimbruder Badie bei einer Demonstration - und ruft zum Widerstand auf.

Zehntausende Anhänger der Muslimbrüder protestieren gegen den Militärputsch in Ägypten - und die Situation droht zu eskalieren. Das Militär gab Augenzeugenberichten zufolge in Kairo Schüsse auf Unterstützer des gestürzten Präsidenten Mohammed Mursi ab. Staatsmedien berichten von zahlreichen Toten und Hunderten Verletzten landesweit.

  • Straßenschlachten in Kairo, Zusammenstöße in Alexandria: Im Zentrum von Kairo lieferten sich Anhänger und Gegner Mursis am Abend Straßenschlachten. An der 6.Oktober-Brücke bewarfen sich beide Seiten mit Pflastersteinen, berichtete eine Reporterin des arabischen Nachrichtensenders Al-Dschasira. Anhänger von Mursis Muslimbrüdern seien mit Stöcken und Steinen auf Gegner losgegangen, Autos seien in Flammen aufgegangen. Nach amtlichen Angaben sind am Freitag landesweit mindestens 17 Menschen getötet worden. Dies berichtete das staatliche Fernsehen unter Berufung auf Daten des Gesundheitsministeriums. Allein in der nördlichen Stadt Alexandria sind laut der amtlichen Nachrichtenagentur Mena mindestens zwölf Menschen ums Leben gekommen. Etwa 200 Personen seien verletzt worden.
  • Tödliche Schüsse, verletzte Demonstranten: Soldaten der Armee gaben Augenzeugen zufolge Schüsse ab, als Demonstranten in Kairo vor das Haupquartier der Republikanischen Garden zogen, wo sie offenbar den festgenommenen Ex-Präsidenten Mohammed Mursi vermuten. Dabei sind nach Angaben der Nachrichtenagenturen AFP und Reuters mindestens drei Menschen getötet worden. Al-Dschasira berichtet zudem von Dutzenden Verletzten, darunter BBC-Reporter Jeremy Bowen. Unklar ist, ob und inwieweit die Armee scharfe Munition einsetzt.
  • Oberhaus des Parlaments aufgelöst: Übergangspräsident Adli Mansur hat per Dekret die obere Kammer des Parlaments aufgelöst. Das meldete das staatliche Fernsehen. Der Schura-Rat hat eigentlich nur beratenden Charakter. Das von islamistischen Kräften dominierte Gremium war aber seit mehr als einem Jahr praktisch die einzige parlamentarische Institution, da die Militärs die Volksversammlung - die erste Kammer - aufgelöst hatten. Im Schura-Rat besetzten Vertreter der Muslimbruderschaft und der besonders strenggläubigen Salafisten 150 der 270 Sitze. 180 Mitglieder waren gewählt worden. Die restlichen 90 ernannte der am Mittwoch vom Militär abgesetzte Präsident Mohammed Mursi. Wie das Staatsfernsehen weiter berichtete, ernannte Mansur Mohammed Ahmed Farid zum neuen Geheimdienstchef. Dessen Vorgänger Mohammed Raafat Schehata wurde zum Sicherheitsberater berufen.
  • Zehntausende auf den Straßen: Nach den Freitagsgebeten folgten in ganz Ägypten Zehntausende Anhänger dem Aufruf der Muslimbrüder zu "friedvollen, vom Volk durchgeführten Protesten" gegen die Mursi-Absetzung. Die größte Kundgebung fand vor der Rabia-al-Adawija-Moschee in der Kairoer Vorstadt Nasr City statt. In Kairo versuchten Demonstranten offenbar, eine Polizeistation zu stürmen. Tausende Menschen strömten auch in Alexandria, Luxor und Damanhur im Nildelta zusammen.
  • Führer der Muslimbruderschaft frei: Mohammed Badia, der Führer der Muslimbruderschaft, ist überraschend beim Protest der Islamisten in Kairo aufgetreten. "Wir werden ihn auf unseren Schultern tragend zurückbringen", rief Badia Zehntausenden Anhängern der Bruderschaft zu. "Wir werden für ihn unsere Seelen opfern." Die Sicherheitsbehörden hatten am Donnerstag mitgeteilt, dass Badia verhaftet worden sei. Sein Anwalt hatte dies am Freitag dementiert. Festgenommen worden sein soll dagegen Hasem Salah Abu Ismail, der frühere Präsidentenkandidat der Salafisten. Die ägyptische Staatsanwaltschaft ordnete zudem die Freilassung von Saad al-Katatni und Raschad al-Bajumi, zwei Führungsmitgliedern der Muslimbruderschaft an.
  • 300 Haftbefehle liegen nach Angaben der Muslimbrüder gegen Mitglieder der Organisation vor. Die Anführer der politischen und geistlichen Führungsriege wurden bereits festgenommen, die Sicherheitskräfte schweigen in vielen Fällen zu den genauen Vorwürfen - ein Indiz dafür, dass es sich um politische Verhaftungen handelt. Ex-Präsident Mohammed Mursi sitzt an einem unbekannten Ort unter Hausarrest, ihm wird "Beleidigung der Justiz" zur Last gelegt.
  • Die Armee hatte zuvor angekündigt, "friedvolle Proteste" zuzulassen - sofern sie nicht die nationale Sicherheit beeinträchtigten. Eine liberale Organisation hat zu Gegendemonstrationen aufgerufen. Ein Aufeinandertreffen der Lager würde die Lage nochmals verschärfen, bereits in den vergangenen Wochen war es immer wieder zu Ausschreitungen zwischen Mursi-Anhängern und -Gegnern gekommen. Bereits den ganzen Tag flogen Kampfflugzeuge über Kairo und Panzer fuhren durch die Straßen der Stadt. Das MIlitär hat die Streitkräfte in den Provinzen Süd-Sinai und Suez in Alarmbereitschaft versetzt, nachdem militante Islamisten drei Militärstützpunkte angegriffen haben. Ein ägyptischer Soldat sei dabei getötet worden, teilten Krankenhauskreise mit. Zwei Polizisten sollen in der Stadt El Arish von Unbekannten erschossen worden sein.

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