Nach Militärputsch:Ägyptens zweite Chance

Nach Militärputsch: Anti-Mursi-Demonstranten auf dem Tahrir-Platz in Kairo

Anti-Mursi-Demonstranten auf dem Tahrir-Platz in Kairo

(Foto: AP)

Ist das demokratische Experiment in Ägypten gescheitert? Der gestürzte Präsident Mursi, die Generäle, die jungen Aktivisten, alle haben unverzeihliche Fehler gemacht. Angesichts der Bilder neuer Gewalt fällt Optimismus schwer. Dennoch: Zweieinhalb Jahre nach dem Sturz Mubaraks steht Ägypten vor einem neuen Anfang.

Ein Kommentar von Tomas Avenarius, Kairo

Ein gewählter Präsident, der "mit Freuden das eigene Leben hingeben" will, um die Legitimität seines Amts zu schützen, in dem er durch eigenes Versagen nach einem Jahr gescheitert ist. Ein Armeechef, der in Absprache mit der Opposition und den obersten geistlichen Führern gegen den Staatschef putscht und willens ist, seine Soldaten zu opfern, um das Vaterland "vor Terrorismus zu schützen". Dazu Millionen politischer Kontrahenten, von denen viele ihren Tod bewusst in Kauf nehmen bei Straßenschlachten und Schießereien in Kairo, Alexandria, Suez: Ist das demokratische Experiment am Nil, begonnen 2011, gescheitert?

Auch wenn Optimismus schwer fällt angesichts der Bilder neuer Gewalt: Dieser Schluss wäre voreilig. Ägypten macht eine fürchterliche Krise durch, ja. Aber nach dem Sturz einer 30 Jahre währenden Diktatur wäre ein reibungsloser Wandel ein politisches Wunder gewesen. Alle Beteiligten haben nach dem Sturz von Hosni Mubarak unverzeihliche Fehler begangen: Die von ihren Wahlerfolgen besoffenen Islamisten; die uneinigen Liberalen; die bei jedem Dissens reflexartig auf die Straße ziehenden jungen Aktivisten; die im Hintergrund zündelnden Anhänger des alten Systems; die Generale, die auf die Sicherung ihrer Wirtschaftsprivilegien bedacht sind; und die Fanatiker, auch unter den Christen. Ob es um die Verfassung oder das Wahlgesetz geht, um den Kampf um die Justiz oder die Verlagerung politischer Streitfragen auf die Straßen Kairos - immer gilt: Der Gewinner bekommt alles und der Verlierer kann sehen, wo er bleibt.

Ägyptens Generäle sind keine Politiker

Zweieinhalb Jahre nach dem Sturz Mubaraks steht Ägypten wieder am Anfang: Militärdiktatur oder Demokratie? Macht der reinen Mehrheit oder Pluralismus? Das ist niederschmetternd, aber darin steckt auch eine zweite Chance. Das gilt allerdings nur, wenn die Offiziere wirklich als unparteiische Makler handeln und nicht als Putschisten. Zweifel daran sind berechtigt: Ägyptens Generale sind keine Politiker, viele von ihnen sind im Kern undemokratisch gesinnt. In der derzeitigen Lage ist es aber trotz Bauchschmerzen nötig und legitim, die Streithähne zu trennen und an den Verhandlungstisch zu zwingen. Ägypten braucht einen Fahrplan für Wahlen und eine pluralistische Verfassung, die Wirtschaft muss stabilisiert, das Land vor dem beginnenden Chaos bewahrt werden. Wenn die Bürger anfangen, aufeinander zu schießen - und das haben sie getan -, reichen Appelle allein nicht mehr aus.

Die Offiziere sind derzeit die einzige halbwegs handlungsfähige Autorität im Land. Es wird sich zeigen, ob sie die Lektion ihrer stümperhaften Machtausübung nach dem Mubarak-Sturz gelernt haben. Das Wichtigste ist: Die Islamisten repräsentieren trotz bedrängter Lage noch immer einen Teil der Ägypter. Sie dürfen nicht rundherum kriminalisiert oder gar vom politischen Prozess ausgeschlossen werden. Sie müssen auf ein pluralistisches Ägypten eingeschworen werden, für das demokratisch handelnde Politiker und Parteien einstehen müssen.

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