Nach Jamaika-Aus:"Ihr versinkt ja im totalen Chaos!"

Alte Münze als Kulturstandort

Bundeskanzlerin Angela Merkel als Wandkunst in der Alten Münze in Berlin. (Symbolbild, aufgenommen am 23. August 2017)

(Foto: picture alliance / Britta Peders)

Was denkt das Ausland von einem Deutschland ohne Regierung? Die einen fühlen Genugtuung, die anderen sind schockiert. Ein Überblick aus aller Welt.

Von SZ-Autoren

Wie reagiert das Ausland auf das Chaos in Berlin? SZ-Autoren berichten aus aller Welt - in unserem Korrespondenten-Kaleidoskop.

Italien: Vorgeschmack auf die eigenen Wahlen

Die Italiener verfolgen die deutschen Regierungswehen, als handelte es sich dabei um erweiterte Innenpolitik. Die Zeitungen berichten täglich über die "Crisi di Merkel", Merkels Krise, nicht selten mehrseitig. In der Tagesschau auf dem öffentlichen Sender Rai Uno kommt Deutschland seit vergangenem Sonntag immer gleich nach der Verhandlung aller Befindlichkeiten bei den italienischen Parteien: "Passiamo alla Germania", heißt es dann jeweils, "wenden wir uns Deutschland zu".

Es ist dies die hohe Zeit der italienischen Deutschlandversteher, jede Zeitung hält sich einen: Bei La Repubblica schreibt der Philosoph und Germanist Angelo Bolaffi, der einmal Direktor des italienischen Kulturinstituts in Berlin war; der Politologe und Historiker Gian Enrico Rusconi, der sich in seiner Karriere intensiv mit dem Studium der deutschen Gesellschaft auseinandergesetzt hat, erklärt Deutschland den Lesern von La Stampa. Die Mailänder Zeitung Corriere della Sera schrieb nach dem Scheitern von "Jamaika", in Italien herrsche eine "feine, vielleicht auch diffuse Genugtuung" darüber, dass Merkel Mühe habe bei der Regierungsbildung. Am Ehesten lasse sich diese Genugtuung mit Schadenfreude umschreiben - ein Wort, für das es keine italienische Entsprechung gibt. "Denn ja, auch das stabile Land schlechthin, Deutschland, sieht sich nach den Wahlen mit neuartigen Ungewissheiten konfrontiert."

Dieses "auch" erklärt erst, warum man sich in Italien in dieser Phase so detailliert für Deutschland interessiert. Die Italiener wählen im kommenden Frühjahr, und alles weist darauf hin, dass die Kräfte im Parlament danach dermaßen zerstückelt sein werden, dass nur ein breites Koalieren über die üblichen Allianzen hinweg Aussicht auf eine Regierung in sich birgt. Eine Zeitung titelte deshalb: "Giamaica, Italia." Als böte Berlin gerade spannenden Anschauungsunterricht darüber, was Rom bald blühen wird. Oliver Meiler

Großbritannien: Merkel ist schwach, also ist die EU geschwächt

In London gibt es immer noch erstaunlich viele Menschen, die daran glauben, die EU werde - aus besserer Einsicht - Großbritannien in der Brexit-Frage weit entgegenkommen. Wenn erst einmal die Deadlines drohen. Und wenn die Erkenntnis in Europas Hauptstädten durchsickert, dass die ökonomische Bedeutung der Insel einfach zu groß ist, um sich diesem Partner zu entfremden. Diejenigen, die an eine späte Kompromissbereitschaft der EU glauben und finden, London dürfe Brüssel in den Verhandlungen nicht zu weit entgegenkommen, sind jetzt auch diejenigen, die gute Chancen sehen, aus dem Kladderadatsch in Berlin Vorteile zu ziehen.

Die einfache Logik vieler Hardliner in London ist: Merkel ist schwach, also ist die EU geschwächt, also wackelt die gemeinsame Front der EU-Staaten. Premierministerin Theresa May solle, heißt es, diese "Schwäche ausnutzen". Und sich davor hüten, jetzt zum Beispiel mehr Geld auf den Tisch zu legen. Der Tory-Star Jacob Rees-Mogg findet, es sei derzeit falsch, ein höheres finanzielles Angebot zu machen (das May allerdings informell schon gemacht hat), und der ehemalige Tory-Chef Ian Duncan-Smith sagt, London solle das "Chaos in Berlin aussitzen".

Kommentatoren aus Medien und Wissenschaft warnen vor dieser Sichtweise. Im besten Falle habe die Schwächung Merkels keine direkten Auswirkungen auf den Brexit, heißt es, weil auch eine schwache Bundeskanzlerin immer noch die Zügel in der Hand halte. Die schlechteste - und wahrscheinlichste - Möglichkeit sei aber derzeit, dass eine geschäftsführende deutsche Bundesregierung keine Kompromisse machen, nicht aus dem EU-Konsens ausscheren und im Zweifel London auch nicht zur Seite springen werde. Einige Boulevard-Blätter warnen schon, dass auch die Hoffnung auf Phase zwei der Brexit-Verhandlungen, die Gespräche über ein Freihandelsabkommen, vorerst ad acta gelegt werden könnten. Die EU werde sich darauf solange nicht einlassen, bis in Deutschland eine neue, stabile Regierung im Amt sei. Cathrin Kahlweit

Österreich: Ein leichter Ton der Genugtuung

"Ungewohntes, instabiles Deutschland", schreibt eine große Wiener Tageszeitung nach dem Scheitern der Jamaika-Sondierungen. Die Österreicher blicken dieser Tage überrascht auf Deutschland. Innenpolitisches Chaos ist man zwar in noch viel größerem Ausmaß bei sich selbst gewöhnt, aber doch nicht vom großen Nachbarn und vor allem nicht von Taktiererin Angela Merkel. Wie geschwächt ist die Kanzlerin? Was passiert mit CSU-Chef Horst Seehofer? Es ist Dauerthema in der österreichischen Presse und im Fernsehen. Dabei macht sich auch ein leichter Ton der Genugtuung bemerkbar.

Die Österreicher haben drei Wochen nach den Deutschen gewählt, aber die Koalitionsverhandlungen gehen dort deutlich schneller voran. Einmal schneller sein als der Vorbild-Nachbar, witzelt so mancher auf Twitter.

Vielleicht freut man sich auch einfach, dass nach einem doch sehr langwierigen und streckenweise peinlichen Wahlkampf zumindest das Gerangel um die nächste Regierung ausbleibt. In Österreich ist aber auch längst ein Szenario Realität, das hierzulande klar als Tabubruch gelten würde: ein Pakt mit den Rechtspopulisten. Während die AfD nicht einmal als Gesprächspartner infrage kommt, ist FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache der bevorzugte Partner von Bald-Kanzler Sebastian Kurz. Die Regierung zwischen ÖVP und FPÖ soll noch vor Weihnachten stehen. Inhaltliche Differenzen gibt es bisher kaum. Leila Al-Serori

Polen: Angst vor Strafen auf Brüssel

Polens Politiker sind zu sehr mit einer umstrittenen Wahlrechtsreform oder weiteren Angriffen der Regierung auf die Unabhängigkeit der Justiz beschäftigt, als dass sie die Ereignisse in Berlin groß kommentieren würden. Die Gazeta Wyborcza aber fürchtet Neuwahlen, ein weiteres Erstarken der AfD und gar politische Instabilität wie zu Zeiten der Weimarer Republik. Das staatliche Fernsehen TVP stellt die Schwächung von Kanzlerin Merkel innerhalb der EU und damit weniger Widerstand gegen Russland in den Vordergrund.

Polens Ministerpräsidentin Beata Szydło versuchte mit einem Besuch bei Frankreichs Präsident Emmanuel Macron Kontaktpflege: Doch Macron bekräftigte, auch Frankreich unterstütze weiter das Vorgehen der EU-Kommission gegen Polen wegen seiner rechtswidrigen Justizgesetze. Die größte Sorge der polnischen Regierung ist, dass Brüssel Polen bei weiterer Missachtung rechtsstaatlicher Grundsätze die jährlichen Milliarden-Subventionen kürzt - mit mindestens stillschweigender Unterstützung aus Berlin. Florian Hassel

Russland: Wenig Aufmerksamkeit für Deutschland

Russlands neuer Langstreckenbomber und wie die Welt vor ihm zittert. Die unfaire Doping-Jagd auf russische Sportler. Der moralische Verfall in den USA und die bizarren Auswüchse von Gleichberechtigung und Political Correctness. Und schließlich die Erfolge bei der Forellen-Zucht im Gebiet Kaluga. Das waren die Themen, die der russische Staatssender Rossija 1 für bedeutend genug hielt, sie in der knapp zweistündigen Wochenschau "Westi Nedeli" am Sonntag ausführlich zu behandeln. Die Regierungskrise in Deutschland kam gar nicht vor.

Anders als bei der Flüchtlingskrise, beim Brexit, der US-Wahl oder dem Katalonien-Konflikt, wo die russischen Staatsmedien mit Häme das Scheitern des Westens beklatschten, wird über die Probleme bei der Regierungsbildung in Berlin vergleichsweise nüchtern berichtet. Viel Aufmerksamkeit bekommt das Thema nicht, als gehe man davon aus, das werde sich im stabilen Deutschland schon alles richten.

Nach der schlechten Erfahrung mit Donald Trump weiß auch Moskau, was man an einem berechenbaren Verhältnis hat - selbst wenn die Kanzlerin Angela Merkel dem russischen Präsidenten Kontra gibt und Europa bei den Sanktionen zusammenhält. Über seinen Sprecher lies Putin erklären, Russland sei an einer raschen Regierungsbildung in Deutschland interessiert. Der Nachsatz, die Koalitionsbildung sei ausschließlich eine innere Angelegenheit Deutschlands, ist seit den Vorwürfen über russische Einmischung inzwischen obligatorisch geworden. Julian Hans

Plötzlich gilt Frankreich als Europas Anker

Frankreich: Macron ist besorgt

"Was ist nur los mit Deutschland? Ihr versinkt ja im totalen Chaos!" Der Kollege von der französischen Zeitung pflegt eine nicht immer subtile Ironie, und dafür bietet ihm Deutschland zurzeit unbestreitbar guten Stoff. Politische Unsicherheit, Unfähigkeit zum Kompromiss, theatralisch inszenierte Wendungen - all das kennt man in Frankreich ziemlich gut. Von Frankreich. Deutschland aber galt dort bis diese Woche als das tugendhafte Gegenmodell, als Stabilitätsanker in Europa. Vor allem Angela Merkel war in den Augen vieler Franzosen dieser Anker. "Aber jetzt naht ihr Ende, der Absturz - c'est la fin!", frotzelt der Kollege weiter.

Die Bundestagswahl hatte relativ wenig Aufmerksamkeit bekommen. Selbst die Franzosen, die sich für Deutschland interessieren, hatten keinen Zweifel, dass Merkel weiter Kanzlerin sein würde - und der wichtigste Partner in Europa stabil. Nun ist der Schreck über die politische Blockade in Berlin umso größer. "Schwere politische Krise in Deutschland", titelt das Leitmedium Le Monde in großen Lettern.

Auch im Pariser Präsidentenpalast ist die Sorge spürbar. Noch in der Nacht des Berliner Verhandlungsabbruchs telefonierte Staatschef Emmanuel Macron mit Merkel. Hinterher ließ der Élysée-Palast verbreiten: "Wir wünschen, für Deutschland und für Europa, dass unser wichtigster Partner stabil und stark ist, um gemeinsam voranzugehen." Stabil und stark - solche Mahnungen musste sich Frankreich jahrelang von deutscher Seite anhören. Jetzt hat sich die Lage umgekehrt, unter Macron wirkt plötzlich Frankreich als Europas Anker.

In der Mahnung schwingt - anders als in den Frotzeleien des Kollegen - keine Häme mit. Der junge Präsident hat hochfliegende Ideen zur Stärkung der EU und der Euro-Zone, er selbst ist mit einem resolut proeuropäischen Wahlkampf ins Amt gekommen. Sein Plan war, seinen Anhängern in Frankreich zur Europawahl 2019 Ergebnisse bei der Umsetzung seiner Ideen nachweisen zu können. Doch die Berliner Blockade macht ihm einen Strich durch die Rechnung. "Ohne Deutschland kommen wir nicht voran", heißt es in französischen Regierungskreisen. Dennoch hoffen sie an der Seine, dass Merkel noch ein paar Jahre als Partnerin erhalten bleibt. Theatralische Wendungen sind ja nun auch in Deutschland möglich. Also warum nicht auch zum Guten? Leo Klimm

USA: Ein großer Trost

Der Truthahn wiegt gute elf Kilo, als Jessica ihn in den Ofen schiebt. Und das war noch einer den kleineren, die der Farmer im Angebot hatte. Es ist Thanksgiving. Millionen Amerikaner haben sich an diesem Donnerstag auf den Weg gemacht zu Freunden und Verwandten, um sich zusammen an Truthahn, Kürbis-Pie, weißen Bohnen und viel, viel Alkohol abzuarbeiten. Wir sind bei Freunden in Sharon, Connecticut, untergekommen. Etwa zwei Stunden nördlich von New York. Ein Haus am Hang, genau gegenüber der Holzbrücke, die Sharon von West Cornwall trennt und den Housatonic River überspannt. Hier leben Schwarzbären in den Wäldern. Ein paar Hügel weiter soll es Klapperschlangen geben.

Natürlich, gesprochen wird auch über Politik. Über US-Präsident Donald Trump vor allem. Und auch kurz über die Schwierigkeiten, die Kanzlerin Angel Merkel hat, in Deutschland eine Regierung zu bilden. Merkel ist unter Linken und Liberalen in den USA so etwas wie die Antipode zu Trump. Sie spiegelt in ihrer ganzen Nüchternheit die Sehnsucht mancher Amerikaner danach wider, dass es auch ohne Lügen, Luxus-Golf-Clubs und ständige Selbstbeweihräucherung gehen kann. Als die Sprache auf Merkel kommt, scheinen es ein paar am Tisch dennoch nicht ganz schlecht zu finden, in welchem Dilemma Merkel sich befindet. "Am Ende", sagt eine Freundin von Jessica, "sind wir nicht mehr die Einzigen, bei denen es nicht ganz rund läuft." Für viele Amerikaner ist das in diesen Zeiten schon ein großer Trost. Thorsten Denkler

Türkei: "Alte Weltordnung" löst sich auf

Ende September kurz nach der Bundestagswahl stürzten sich die türkischen Medien noch auf die AfD. Das gute Abschneiden der rechtsradikalen Partei führten vor allem die regierungsfreundlichen Zeitungen auf ein Versagen Merkels zurück. Die habe mit ihrem "türkeifeindlichen Hass-Diskurs" dazu beigetragen, dass "Neonazis erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg" ins Parlament einzogen, schrieb zum Beispiel das Blatt Star.

Gleichzeitig versprach man sich eine Normalisierung der Beziehungen und eine "neues Kapitel", wie es Ministerpräsident Binali Yıldırım ausdrückte. Da sah es allerdings auch noch danach aus, dass Kanzlerin Merkel sicher im Amt bleibt, mit einer Jamaika-Koalition im Rücken. Eine Kanzlerin also, die zwar regelmäßig von türkischen Medien und Politikern geschmäht wird, mit der die Regierung aber zumindest auch so viel Gesprächsgrundlage hatte, dass man bis heute einen einigermaßen funktionierenden Flüchtlingsdeal aushandeln und aufrechterhalten konnte.

Doch nun, da Jamaika geplatzt ist, stellt sich bei türkischen Kommentatoren und Politikern wieder der Drang ein, deutsche Innenpolitik auf einen vermeintlichen türkeispezifischen Kern zu drehen. Das Scheitern der Sondierungen und damit von Kanzlerin Merkel sei ein Zeichen dafür, dass sich die "alte Weltordnung auflöse", schreibt etwa Ozan Ceyhun, Kolumnist bei der Erdoğan-treuen Zeitung Sabah. Für die neue Weltordnung hingegen stehe - natürlich - Präsident Erdoğan.

Dementsprechend schwingt eine gute Portion Häme mit beim Blick nach Deutschland. Das Blatt Yeni Safak befindet, dass Merkel "abstürzt" und stilisiert die in Deutschland eher wenig beachtete Forderung eines Kreisvorsitzenden der JU zu dieser Überschrift hoch: "Sie wollen Merkels Rücktritt." Deniz Aykanat

Israel: Jamaika-Ende wird kaum kommentiert

"Merkel muss weg. Wenn man so lange an der Macht ist, dann ist das nicht gut. In der Demokratie braucht man immer wieder einen Wechsel", meint der Café-Besitzer Shmuel in Jaffa. Er hat sich seine Meinung schon nach der Wahl gebildet. Dass die Jamaika-Koalition nun nicht zustande kommt, wurde in den israelischen Medien knapp, aber doch berichtet, aber nicht kommentiert. Von offizieller politischer Seite gab es dazu ohnehin keine Äußerung.

Nach den Eilmeldungen in der Nacht des Scheiterns folgten dann wenige Berichte über die Auswirkungen auf europäischer Ebene: Was denn nun werde aus den Reformplänen, was mit der Euro-Zone? Der Name Merkel wird dennoch derzeit in Israel häufiger erwähnt - und zwar von jenen Abgeordneten in der Arbeitspartei, die gegen den neuen restriktiven Kurs in der Flüchtlingspolitik sind, den der erst im Sommer gewählte Parteichef Avi Gabbay der linken Partei verordnet hat. Eine Mehrheit stimmte dafür, den Vorschlag der Regierung Netanjahu, 40 000 afrikanische Flüchtlinge nach Ruanda und Uganda abzuschieben, zu unterstützen. Die Unterlegenen verweisen dagegen auf die Haltung Merkels als Vorbild.

Ausführlicher wurde in der Jerusalem Post über die Co-Finanzierung von zwei Veranstaltungen in Gaza und Beirut durch die den Grünen nahestehende Heinrich-Böll-Stiftung berichtet, weil dort Hamas-Führer auftreten. Dass die Stiftung inzwischen die Unterstützung zurückgezogen hat, wurde noch nicht nachgetragen. Alexandra Föderl-Schmid

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