Süddeutsche Zeitung

Nach Granatenbeschuss der Türkei:Wem der syrisch-türkische Konflikt nutzt

Das Bemühen um Deeskalation hat ein Ende: Das Parlament der Türkei hat einen Militäreinsatz in Syrien genehmigt. So könnte die eine syrische Granate, die am Mittwoch ein Haus auf türkischer Seite traf, den Bürgerkrieg zu einem internationalen Konflikt eskalieren lassen. Den syrischen Rebellen wäre damit geholfen.

Sonja Zekri

Es war alles wie immer, wie schon seit vielen Monaten: Eine syrische Rakete traf ein Haus in Grenznähe, durchschlug die Wand und explodierte auf dem Hof. Fünf Menschen starben, darunter Zeliha Tumunc und ihre drei Kinder. Schrapnellsplitter verwundeten mindestens neun weitere Menschen. Scheiben umliegender Häuser barsten. Einige verängstigte Menschen schliefen auf der Straße, andere flüchteten sich in die Nähe des Bürgermeisteramtes. Am Donnerstag, dem Tag danach, wurden die Toten zu Grabe getragen, in der Ferne war der Donner der Geschütze zu hören. Hunderte Schulen in der Region sind wegen des Kriegs seit zwei Wochen geschlossen.

Was diesmal anders war: Es starben nicht Syrer, sondern fünf türkische Zivilisten des Grenzortes Akçakale, 240 Kilometer nördlich von Aleppo. Die syrische Regierung sprach den Familien der Opfer ihr "tiefes Beileid" aus. Sie möchte den Vorfall untersuchen. Der Türkei ist dies nicht genug, kann es nicht genug sein.

Akçakale war schon häufiger ins Visier geraten. Ende September traf eine syrische Mörsergranate ein Gebäude und verwundete einen Menschen. Schon damals hatte die Türkei mit Vergeltung gedroht. Noch in der Nacht zu Donnerstag und erneut am Donnerstagmorgen ließ Premierminister Tayyip Erdogan nun die syrische Grenzregion beschießen. Fünf syrische Soldaten seien dabei in der Nähe der Stadt Tall Abjad getötet worden, meldeten einzelne Medien unter Berufung auf eine syrische Aktivistengruppe.

Damit beginnt eine weitere Phase der Eskalation. Sie könnte in eben jene internationale Intervention münden, die weder die Türkei noch ihre westlichen Partner wollen. Als Syrien im Juni einen türkischen Kampfjet abgeschossen und zwei Piloten getötet hatte, war die Türkei noch um Deeskalation bemüht. Am Donnerstagnachmittag aber hat das türkische Parlament mit 320 gegen 129 Stimmen für einen befristeten Militäreinsatz in Syrien gestimmt. Ein Jahr lang darf die türkische Armee Kampfjets oder Truppen über die Grenze schicken. Damit verlängerten die Abgeordneten ein Mandat, das ursprünglich erteilt worden war, um Auslandseinsätze gegen militante Kurden im Nordirak zu erlauben.

Zwar betonte Vizepremier Besir Atalay, Syrien habe sich entschuldigt, das Mandat sei keine Kriegserklärung. Erdogans Gegner aber - und viele Türken - befürchten eben dies. Eine Demonstration von Kriegsgegnern vor dem Parlament trieb die Polizei mit Tränengas auseinander. Das Mandat für Auslandseinsätze gehe viel zu weit, so Muharrem Ince von der oppositionellen Republikanischen Volkspartei CHP: "Damit können sie einen Weltkrieg beginnen."

Die Aufständischen fordern verzweifelt Hilfe

Die Nato-Staaten Frankreich, Deutschland und Großbritannien fordern eine Verurteilung des Angriffs durch den UN-Sicherheitsrat. Dass der Bündnisfall ausgerufen wird, erscheint derzeit noch unwahrscheinlich. Aber das muss nicht so bleiben. Denn die Rebellen und ihre Freunde am Golf, vor allem Katar, fordern eine bessere Bewaffnung, ein Flugverbot, eine Sicherheitszone. Berichten zufolge sind in der Türkei - seit Monaten Aufmarsch- und Übungsplatz für die Rebellen - bereits Flugabwehrraketen eingetroffen, die nur noch über die Grenze gebracht werden müssten, um das Blatt gegen Präsident Baschar al-Assad zu wenden.

Die Aufständischen fordern verzweifelt Hilfe, denn mit der Befreiung der strategisch wichtigen Stadt Aleppo geht es nicht voran. Am Mittwoch starben durch zwei Autobomben in der Nähe des Offiziersclubs und zweier Hotels am Rande der Altstadt Aleppos Dutzende Menschen. Die al-Qaida-nahen Kämpfer der Jabha al-Nusra bekannten sich zu dem Anschlag und veröffentlichten auf Webseiten Details des Hergangs sowie Fotos der Attentäter. Niemand weiß genau, wie stark al-Qaida in Syrien tatsächlich ist, auch wenn ein Sympathisant der Terrorgruppe der SZ unlängst erklärte, das Netzwerk konzentriere derzeit alle Kräfte auf diesen Konflikt. Doch zweifellos schreckt der Einfluss der Extremisten nicht nur Syrer ab, sondern auch ausländische Militärmächte. Berichten der New York Times zufolge wird es für die Rebellen schwieriger, Soldaten zum Überlaufen zu bewegen. Weder Aleppo noch Damaskus haben sich dem Aufstand angeschlossen. Sollten die Türkei und die internationale Gemeinschaft durch weitere Vorfälle wie in Akçakale im Zeitlupentempo in den Syrien-Konflikt verstrickt werden, käme dies den Rebellen nur entgegen.

Jetzt schon ist die Situation in Syrien für die Türkei belastend. Fast 120.000 Syrer sind vor dem Bürgerkrieg in die Türkei geflüchtet; Gewaltausbrüche wie jener in Akçakale lassen die Solidarität der Türken deutlich sinken. Dass die kurdische Arbeiterpartei PKK die Kurdengebiete im Norden Syriens praktisch kampflos übernommen hat und nun neben dem syrischen Geheimdienst einen Teil der Grenzregion kontrolliert, hat Ankara zusätzlich alarmiert. Zudem leben in der Grenzregion türkische Alawiten, Verwandte jener schiitischen Sekte, zu der Syriens Präsident Baschar al-Assad, die Spitze des Militärs und die verhassten Schabiha-Milizen gehören. Syrer, die vor Assad geflohen sind, klagen, dass sie in türkischen Krankenhäusern von alawitischen Ärzten und Schwestern schlecht behandelt werden. Deshalb sollen jetzt neue Flüchtlingslager weiter im Osten entstehen, weit weg von den Alawiten, von denen sie sich bedroht fühlen.

Unlängst organisierten Einwohner der türkischen Grenzstadt Antakya, Provinz Hatay, eine Demonstration. Vor den Augen der syrischen Flüchtlinge trugen sie das Bild Baschar al-Assads durch die Straßen - die Augen nach Retuschen so blau wie jene Kemal Atatürks.

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Quelle:
SZ vom 05.10.2012/mahu
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