Die Lindner-FDP hat die Sondierungsgespräche dazu missbraucht, um sich nach Vorbild des ehemaligen FPÖ-Chefs zu "haiderisieren" - um dann gegebenenfalls bei einer Neuwahl der AfD Stimmen wegzunehmen. Parteichef Lindner wollte potenziellen AfD-Wählern zeigen, dass sie auch bei seiner FDP gut aufgehoben sind. Es war der bemerkenswerteste Satz dieser Sondierungsgespräche, dass CSU-Chef Seehofer darüber klagte, die FDP versuche in der Flüchtlingsfrage, die CSU rechts zu überholen.
Wahrscheinlich glaubt FDP-Chef Christian Lindner jetzt, seine Partei sei nach dem Scheitern der Jamaika-Gespräche die einzige, die profiliert dasteht. Es kommt aber nicht darauf an, dass man irgendein Profil hat, sondern welches Profil man hat. Die Lindner-FDP hat nun das Odium der Verantwortungslosigkeit. Wenn man das Profil nennen will - dann bitte. Dann steht die FDP nach der gescheiterten Jamaika-Koalition als die Partei der profilierten Verantwortungslosigkeit da. Vielleicht meint Lindner, er könne auf diese Weise - à la Sebastian Kurz in Österreich - ganz nach oben kommen. Vielleicht meint er, er könne auf diese Weise das erreichen, was Westerwelle verfehlt hat. Vielleicht hält er sich jetzt für eine Lichtgestalt. Er ist eine Irrlichtgestalt.
Nach dem Scheitern von Jamaika heißt die Alternative: große Koalition oder Neuwahl. Alle anderen Optionen - eine rot-rot-grüne Koalition plus FDP, Schwarz-Gelb plus AfD - muss man gar nicht erst diskutieren. Eine Minderheitsregierung? Machbar, aber derzeit nicht probat. Also: große Koalition oder Neuwahl. Was bringt eine Neuwahl? Höchstwahrscheinlich wenig Änderung. Außerdem kann man nicht einfach so lang wählen lassen, bis das Ergebnis passt. Also bleibt die große Koalition. Die große Koalition ist nicht schlecht für das Land, sie hat ordentlich regiert - aber sie hat die SPD zerrieben.
"Und durch Deutschland geht ein tiefer Riss"
Kann man der SPD trotzdem dazu raten? Man kann. Die Situation ist jetzt eine andere als vor zwei Monaten. Damals war es richtig zu sagen, dass demokratische Verantwortung auch Opposition heißen kann. Und damals war es richtig zu sagen, dass die Sozialdemokraten eine gute Opposition machen. Aber Opposition kann man nur sein, wenn es eine Regierung gibt. Wenn die Regierungsbildung scheitert und scheitert - dann muss man sich überlegen, ob die getroffene ehrenwerte Entscheidung, die Opposition zu bilden, noch gilt. Die politische Geschäftsgrundlage hat sich nach dem Scheitern von Jamaika geändert. Die SPD muss die Dinge neu überlegen - der Bundespräsident, der die Verfassung dieser Partei so gut kennt, muss Anregungen geben. Die SPD muss jetzt mehr Verantwortung zeigen als die verantwortungslose FDP.
Kurt Tucholsky hat vor fast hundert Jahren das Lied vom Kompromiss geschrieben, Hanns Eisler hat es vertont. Das war 1919. Tucholsky hat sich darin über den Kompromiss lustig gemacht, er hat ihn veralbert, er hat so getan, als seien Kompromisse das Blödeste, was es gibt. Es war, das muss man so sagen, ein undemokratisches Lied. Es war damals freilich ein Lied, mit dem Tucholsky die neuen linken Kräfte davor warnte, sich mit den alten reaktionären, antidemokratischen und monarchistischen Kräften einzulassen. Das war damals verständlich und richtig. Heute ist das anders, ganz anders. Eine Demokratie unter Demokraten ist ohne Kompromiss nicht zu machen. Die Koalitionsgespräche sind letztlich daran gescheitert, dass sich die FDP aus Selbstinszenierungsgründen und um bei einer eventuellen Neuwahl gut dazustehen dem ernsthaften Kompromiss verweigert.
Das Tucholsky-Lied, das den Kompromiss verdammt und das heute so falsch klingt, hat gleichwohl einen Schluss, der leider immer noch oder schon wieder gilt: Und durch Deutschland geht ein tiefer Riss - dafür gibt es keinen Kompromiss. Die FDP hat diesen Riss nicht verkleinert, sondern vertieft. Jetzt müssen Union und SPD die Brücke schlagen.