Süddeutsche Zeitung

Japan-Katastrophe: Frankreichs neue Atom-Skepsis:58 Gründe für den Zweifel

58 Atommeiler hat Frankreich, sie waren der Stolz der Grande Nation - kaum ein anderes Land ist so nuklearvernarrt. Gewesen. Denn nach der Katastrophe in Japan befallen auch die Befürworter erste Zweifel.

Stefan Ulrich, Paris

Henri Proglio, der Chef des staatlichen französischen Strom- und Nuklearkonzerns EDF, hat einen Brief an seine Mitarbeiter geschrieben. Darin bittet er sie, doch bitte auf ihre Familien, Freunde und Nachbarn einzuwirken. "Es ist wichtig, dass ihr in der Lage seid, sie zu beruhigen", meint Proglio. EDF sei ein verantwortungsvolles Unternehmen, das sich unablässig um die Sicherheit seiner Atomkraftwerke bemühe.

Die Katastrophe in Japan hat sogar Frankreich, diesen Atomstaat par excellence, ins Grübeln gebracht. Zwar wollen bislang nur die Ökoparteien ohne Wenn und Aber aus der Atomenergie aussteigen - sie fordern ein landesweites Referendum. Aber auch in den anderen Parteien wächst die Erkenntnis, dass der Nuklearunfall im fernen Osten eine Zäsur bedeutet. Die konservative Regierung unter Präsident Nicolas Sarkozy verspricht, alle 58 Atommeiler des Landes zu überprüfen und die Ergebnisse zu veröffentlichen. Womöglich müsse dann auch ein Kraftwerk vom Netz gehen.

André-Claude Lacoste, der Chef der französischen Nuklearaufsicht, räumt ein: "Wir können nicht absolut garantieren, dass es nie einen Nuklearunfall geben wird." Die Zeitung Le Monde schreibt in ihrem Leitartikel vom Donnerstag: "Heute steht nicht weniger als das Dogma der nuklearen Unfehlbarkeit in Frage."

Dieses Dogma durchzieht die ganze jüngere Geschichte der Republik. Es hat dabei mitgeholfen, aus einem im Zweiten Weltkrieg von Deutschland geschlagenen, besetzten und gedemütigten Land in kurzer Zeit eine Führungsnation mit Weltmachtanspruch zu machen. Der Befreier Charles de Gaulle persönlich war es, der früh das politische und wirtschaftliche Potential der Atomkerne erkannte und in den Dienst der Nation stellte. Bereits 1945 richtete er eine staatliche Atombehörde namens Commissariat à l'Énergie Atomique ein. Früh wurden die Entwicklungen eines militärischen und eines zivilen Atomprogramms miteinander verknüpft. Frankreich wurde eine der vier klassischen Atomstreitmächte und einer der Vorreiter bei der zivilen Nutzung der Nuklearenergie.

Noch unter de Gaulle gingen etliche Reaktoren in Betrieb. Nach dem Ölpreisschock von 1973 bauten die Franzosen dann binnen weniger Jahre 36 weitere Reaktoren in ihrem Land auf. Ziel war es, das rohstoffarme Frankreich unabhängig in Sachen Energie zu machen, Wirtschaft und Bürger mit günstigem Strom zu versorgen und zugleich am Export der Atomtechnik zu verdienen. Der französische Physiker Antoine Henri Becquerel hatte einst die Radioaktivität entdeckt, die in Frankreich arbeitende Physikerin Marie Curie trieb seine Forschungen weiter. Nun machten französische Wissenschaftler und Techniker die Atomkraftwerke zu einem Stolz der Republik. Sie wurden, ähnlich wie die Concorde und der TGV, zu Symbolen für die Modernität und Schaffenskraft Frankreichs.

Natürlich gab es auch jenseits des Rheins Proteste gegen die Atompolitik. Sie erreichten jedoch nie solche Ausmaße wie in Deutschland. Das mag daran liegen, dass Frankreich, das Land der Aufklärung und des Glaubens an Vernunft und Wissenschaft, traditionell ein anderes Technik- und Naturverständnis hat als der deutsche Nachbar. Frankreich vertraute darauf, der Mensch könne die Natur zähmen und sich die Erde tatsächlich Untertan machen. Diese Geisteshaltung zeigt sich im streng disziplinierten französischem Garten mit seinen Buchsbaumrabatten ebenso wie in der Nuklearpolitik. Sogar in diesen Tagen mit den grauenvollen Bildern aus Japan versichert Marc-Philippe Daubresse von der Regierungspartei UMP: "Ich glaube immer daran, dass der technische Fortschritt über die schlimmsten Naturkatastrophen triumphieren kann."

Die Atomkraft ließ sich in Frankreich auch deswegen so umfassend durchsetzen, weil sie über die Jahrzehnte von einem kleinen Kreis von Nukleokraten mehr oder weniger unter Ausschluss von Parlament und Öffentlichkeit entwickelt, umgesetzt und ausgebaut wurde. Dabei bildete sich eine dauerhafte Atomallianz aus rechten wie linken Regierungen und den Technokraten der Elitehochschule École Nationale Supérieure des Mines. Die Absolventen der Hochschule, das sogenannte Corps des Mines, besetzten die hohen Posten in den staatlichen Aufsichtsgremien und der Nuklearwirtschaft. Die gewählten Abgeordneten hatten in Sachen Atompolitik dagegen wenig zu bestimmen.

Erst nach dem Tschernobyl-Unglück und der kruden Informationspolitik der damaligen französischen Regierung, die quasi behauptete, die Strahlung würde vor den Landesgrenzen haltmachen, geriet die Atomindustrie stärker unter Rechtfertigungsdruck. Dennoch setzt Präsident Sarkozy bislang voll auf Atomkraft - für Frankreich und für seinen Export. Die französischen Reaktoren produzieren etwa drei Viertel des nationalen Strombedarfs - in dieser Hinsicht ist Frankreich Weltspitze. Politiker und Atomlobby versichern den Bürgern seit Jahren, es gäbe keine sicherere, günstigere und sauberere Energiequelle. Wind, Wasser und Sonne sollten zwar gefördert werden, seien aber nur eine Ergänzung.

Die Katastrophe von Japan hat diese französischen Gewissheiten ins Wanken gebracht. Wenn in jenem gut organisierten, hochtechnologisierten Land ein solcher Unfall möglich ist, könnte er dann nicht auch in Frankreich geschehen? Wenn Deutschland ein Moratorium für seine Reaktoren erlässt und erfolgreich den Anteil erneuerbarer Energien ausbaut, sollte nicht auch Frankreich umdenken? Noch stellen sich Konservative, Sozialisten und sogar Kommunisten im Parlament schützend vor das nationale Atomdogma und versuchen zu verteidigen, was zu verteidigen ist. Noch werden die französischen Grünen aus den anderen Parteien geschmäht, sie "surften auf den Emotionen" und machten mit der Not der Japaner Politik. Doch zugleich nagen in allen Parteien und bei sehr vielen Bürgern Zweifel am nuklearen Dogma. Tag für Tag werden sie stärker. Henri Proglio und seine Mitarbeiter werden viel Überzeugungsarbeit leisten müssen.

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SZ vom 18.03.2011/fiem
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