Nach der Wahl in Hessen:"Die SPD sollte sich jetzt nicht aus dem Staub machen"

In der SPD wird heftig über die Ursachen der katastrophalen Wahlergebnisse diskutiert. Soll die Partei raus aus der großen Koalition im Bund? Wir haben bei der Basis nachgefragt.

Protokolle von Markus C. Schulte von Drach und Leila Al-Serori

Die Landtagswahlen in Hessen und zuvor in Bayern sind zu einem Debakel für die Sozialdemokraten geworden. In der Partei wird heftig über die Ursachen diskutiert - und ob die Bundes-SPD nun Konsequenzen ziehen sollte: Raus aus der Koalition mit der Union oder nicht? Wir haben bei der Partei-Basis nachgefragt.

Jana Marlene Mader (31), freie Autorin und Übersetzerin in München, ist seit Mai 2018 Mitglied der SPD

Ich bin absolut dagegen, dass die SPD in der großen Koalition bleibt. Sie findet ihre Rolle nicht und verliert dadurch jeden Tag ein Stück mehr Glaubwürdigkeit - auch durch die Kompromisse im Gesundheitswesen, Stichwort Bürgerversicherung, oder in der Asylpolitik, die sie durch die Koalitionspartner immer wieder eingehen muss. Deshalb haben die Grünen die SPD auch eingeholt.

Die Bürger wissen nicht mehr, was Sozialdemokratie bedeutet, wofür die SPD eigentlich steht. Ich bin seit einigen Monaten trotzdem SPD-Mitglied, weil ich an soziale Gerechtigkeit glaube, an den Aufstieg durch Bildung. Ich bin Doktorandin, kostenlose Bildung von der Kita zur Uni ist mir ein großes Anliegen. Solche Ideale vertritt für mich nur die SPD.

Jana Marlene Mader

"Die Bürger wissen nicht mehr, was Sozialdemokratie bedeutet, wofür die SPD eigentlich steht." Jana Marlene Mader ist dafür, aus der Groko auszusteigen.

(Foto: Privat)

Aber in der Partei läuft so vieles schief. Es wird immer wieder Erneuerung gepredigt, aber diese findet viel zu wenig tatsächlich statt. Für mich sollte diese Erneuerung zuallererst beim Personal anfangen. Es kann nicht sein, dass wichtige Personalentscheidungen immer noch in kleinen Zirkeln beschlossen werden. Die Mitglieder werden zur Debatte aufgerufen, aber die Spitze der Partei dürfen sie nicht mitentscheiden. Nur wenn die SPD ihre Struktur ändert, wird sie wirklich eine Erneuerung schaffen können. Und nur dann kann sie wieder glaubwürdig und wählbar werden.

Ulf Baier (51), Redakteur, Frankfurt am Main.

Die Frage nach der Entscheidung, jetzt aus der großen Koalition in Berlin auszusteigen oder nicht, halte ich für falsch. Es gibt zwar die Überlegung, die SPD müsste sich in der Opposition regenerieren. Aber wenn wir uns Hessen anschauen, da sind wir seit 20 Jahren in der Opposition, und in Bayern seit Jahr und Tag. Da haben wir uns auch nicht in der Opposition regeneriert.

Und was passiert, wenn die SPD aus der großen Koalition aussteigt? Machen die Leute dann die Fenster auf und rollen die roten Fahnen aus? Oder sagen sie eher, jetzt gibt es noch mal großes Chaos? Ich denke, es ist eine gute Idee, wie geplant die Hälfte der Legislaturperiode in Berlin abzuwarten und dann zu schauen, wie es gelaufen ist und erst dann zu entscheiden.

Ulf Baier

"Machen die Leute dann die Fenster auf und rollen die roten Fahnen aus?" Für Ulf Baier kommt die Frage nach dem Ausstieg aus der Groko jetzt zu früh.

(Foto: Privat)

Die SPD hat für mich momentan kein inhaltliches Profil. Und das ist nicht nur von der großen Koalition abhängig, sondern auch davon, wie sie sich inhaltlich selbst gestaltet. Sie muss wieder zeigen, wofür sie steht, und dass sie in die Zukunft gewandt diskutiert. Welche Fragen sind denn überhaupt wichtig? Da fehlen mir gerade die Impulse, auch von der Spitze.

Wenn die SPD ihr Profil geschärft hat, kann man schauen, ob das mit dem zusammenpasst, was in der Koalition möglich ist. Wenn man merkt, man kommt da nicht weiter, dann sollte man aus der Koalition raus.

Nicht aus der Verantwortung stehlen

Nicole Bärwald-Wohlfarth (30) ist ehrenamtliche SPD-Stadträtin in Leipzig und promoviert an der dortigen Universität.

Die derzeitigen Probleme der SPD sind ein deutliches Zeichen dafür, dass die Partei nicht mehr die Themen aufgreift, die die Menschen tatsächlich bewegen. Die Wahlergebnisse sind die Strafe dafür. Da geht es zum Bespiel darum, dass man bei Hartz IV reichlich gefordert, aber das Fördern vergessen hat. Wir zwingen da ganze Familien inklusive Kinder völlig unverschuldet in einen Bürokratie-Wust, der kaum zu durchblicken ist, ohne den Menschen zu helfen, aus ihrer Situation herauszukommen.

Wir kümmern uns auch nicht um die Leute im Niedriglohnbereich in der Dienstleistungsbranche. Wir sind in der Rentenpolitik permanent mit Kurzfristigkeiten beschäftigt. Wir finden keine Lösungen dafür, Länder und Kommunen besser auszustatten, damit die Kitaplatz-Frage endlich gelöst wird, damit es mit der Schulsanierung vorangeht. Da ist die SPD ziemlich blank. Und wo die Partei gute Arbeit leistet, verkauft sie sich schlecht.

Es ist außerdem ein generelles Problem der SPD, dass nur die die Chance zum Aufstieg in der Partei bekommen, die sich anpassen. Querköpfe, innovative Köpfe, Seiteneinsteiger sind in der SPD nicht gern gesehen, auch wenn das wichtige Impulsgeber sein könnten für eine Erneuerung der Partei. Sie produziert immer wieder die gleiche Art von Funktionären aus sich heraus. Sie erneuert sich nicht - weder inhaltlich, noch personell noch strukturell.

Aber die Groko sollte unbedingt fortgesetzt werden. Dazu sehe ich keine Alternative. Die CDU hat bereits angekündigt, dass es dann Neuwahlen geben sollte. Daraus würde die SPD nicht gestärkt hervorgehen. Wir haben in der bisherigen Regierungsbeteiligung keine Programmatik und kein Personal entwickelt, die bei einer Neuwahl wirklich authentisch Verbesserungen und Erneuerungen in der SPD repräsentieren könnten. Wenn wir jetzt aus der Groko gehen, werden wir bei der nächsten Wahl dafür - zu Recht - massiv abgestraft. Denn dass, was wir in der Opposition fordern könnten, könnten wir ja in der Regierung umsetzen. Leider tun wir weder das eine, noch das andere. Aber wir leben in politisch viel zu unsicheren Zeiten, als dass die SPD sich jetzt aus der Verantwortung stehlen könnte.

Die SPD präsentiert keine neue Ideen mehr

Arne Neubauer (34) ist mit 16 Jahren in die SPD eingetreten. Er arbeitet als Rechtsanwalt in Hamburg

Ich habe für die große Koalition gestimmt. Nicht gerne, aber weil ich sehe, dass wir in Europa starke Strömungen Richtung Populismus haben, und dass wir deshalb in Deutschland Stabilität brauchen. Mittlerweile befürchte ich, dass die zumindest gefühlte Tatenlosigkeit der Regierung den Populismus sogar noch fördert.

Die SPD ist außerdem unter der großen Koalition immer weniger sichtbar geworden. Ich habe das Gefühl, sie wird erdrückt und kann keine eigenen Ideen mehr präsentieren - obwohl die definitiv vorhanden sind. Die SPD sollte jetzt den Mut haben, sie anzupacken. Für mich ist etwa eine große Diskussion der Umgang mit der Automobilindustrie im Dieselskandal. Und was ist zum Beispiel mit dem Grundeinkommen?

Arne Neubauer

"Die SPD sollte jetzt den Mut haben, neue Ideen anzupacken, und nicht im selben Strom wie die Union zu schwimmen." Arne Neubauer würde nicht noch einmal für die Groko stimmen.

(Foto: Privat)

Ich habe zuletzt noch für meine Partei gestimmt, weil ich von den Grundideen der SPD überzeugt bin. Aber angesichts des aktuellen Programmes würde ich sie eigentlich nicht mehr wirklich aus Überzeugung wählen, sondern eher die Grünen. Und da bin ich nicht der einzige in der Partei. Wenn ich mich jetzt noch einmal entscheiden könnte, würde ich mich klar gegen die Groko aussprechen. Die SPD sollte sie beenden.

Bojana Živković (32), Rechtsanwältin in Frankfurt am Main

Zu Beginn des Jahres habe ich lange hin und her überlegt, und dann für die GroKo gestimmt. Entscheidend für das "Ja" war, dass so die sozialdemokratischen Ansätze aktuell in der Tagespolitik bleiben sollten und der zunehmenden Radikalisierung nicht allzu viel Raum gegeben wird.

Inzwischen bin ich der Auffassung, dass es der SPD an einem klaren Profil fehlt. Die Stellungnahmen zur Umweltpolitik sind mäßig - wo bleibt die Aufregung über den Dieselskandal? Wo sind die Ansagen, wie beispielsweise Elektromobilität gefördert werden kann? Wo die konkreten Aussagen zur Regulierung des Flugverkehrs bei der stetigen Umweltverschmutzung und den katastrophalen CO₂-Werten? All diese Themen sind nicht präsent genug in der Politik der SPD.

Bojana Zivkovic

"Die Opposition ist die bessere Wahl, um sich wieder deutlicher zu positionieren." Bojana Živković ist dafür, die Groko zu beenden.

(Foto: Privat)

Auch zu Themen, die sozialdemokratisch sind, äußert sich die SPD viel zu unklar, etwa den klassischen sozialen Themen wie sozialer Wohnungsbau oder Mängel in der Pflege.

Inzwischen bin ich daher der Ansicht: Die Opposition ist die bessere Wahl, um sich wieder deutlicher zu positionieren und auch neue Ideen zu entwickeln. Auch für Hessen glaube ich, dass eine Koalition aus CDU und SPD keine gute Idee ist. Mit ihr bestünde die Gefahr, dass die SPD weiter an Profil verliert.

Nicht aus rein taktischen Gründen die Groko verlassen

Carsten Schwäbe (30), Mitglied im Kreisvorstand der SPD Steglitz-Zehlendorf, Berlin, Seminarleiter der Akademie für Soziale Demokratie

Ich war und bin weiterhin ein Groko-Gegner, aber nicht, weil ich prinzipiell glaube, dass die Erneuerung und neue Profilierung der SPD nur außerhalb der Groko möglich ist. Aus meiner Sicht hat aber das jetzige Führungspersonal es nicht verstanden, die zentralen programmatischen Fragen für die Erneuerung der Partei zu beantworten. Weder Andrea Nahles, noch Olaf Scholz oder Lars Klingbeil geben klar zu erkennen, wohin die SPD steuern sollte: pro oder contra Kohle, pro oder contra Agenda 2010, Hartz IV, liberale Flüchtlingspolitik, Schuldenbremse, progressive Steuerreform, Erbschaftsteuer und so weiter.

Carsten Schwäbe

"Ich persönlich glaube an eine Erneuerung der SPD von links, die einen radikaleren Auftritt in der Debatte möglich macht." Carsten Schwäbe war und ist gegen die Groko.

(Foto: Privat)

Ich persönlich glaube an eine Erneuerung der SPD von links, die einen radikaleren Auftritt in der Debatte möglich macht. Denn zu sagen, die Groko wäre super, alles was sie mache, habe eine sozialdemokratische Handschrift, das ist der falsche Ansatz. So merkt wirklich keiner mehr einen Unterschied zwischen Union und SPD. Wir müssen klar sagen, dass diese Koalition nur der kleinste gemeinsame Nenner sein kann, dass die SPD hier etwas, aber nur sehr wenig umsetzen kann. Und dass SPD pur etwas ganz anderes ist, wofür wir dann wiederum die Unterstützung der Menschen bei Wahlen und darüber hinaus brauchen.

Nur so kann die SPD wieder ein Stück Diskurshoheit gegenüber der Union gewinnen. Bisher fehlte ihr aber dazu der Mut - übrigens schon seit langem und auch in der Opposition. Wenn Ende 2019 die bisherige Umsetzung evaluiert wird und man inhaltliche Gründe findet, dann sollte die SPD aus der GroKo aussteigen. Aber nicht aus rein taktischen Gründen.

Raven Kirchner (23) ist mit 14 Jahren in die SPD eingetreten. Er ist Vorsitzender des SPD-Ortsvereins Frankfurt-Riederwald

Zwar konnten auf Bundesebene einige SPD-Ziele durchgesetzt werden oder sind in Arbeit. Allerdings wird das überhaupt nicht wahrgenommen. Eine Erneuerung der SPD nach der Bundestagswahl hat nur auf dem Papier stattgefunden, indem immer wieder per Mails des Parteivorstandes auf Debattencamps oder Ähnliches hingewiesen wurde. Nur sehe ich in keiner Weise, dass die dort unterbreiteten Vorschläge umgesetzt wurden.

Meiner Meinung nach muss sich die SPD erneuern und da dies bisher nicht in der Regierung geschehen ist, halte ich es für geboten, dies in der Opposition zu tun. Dann würden vielleicht auch unsere durchaus guten Programmpunkte, wie zum Beispiel eine Bürgerversicherung und der Schutz der Mieter und Mieterinnen vor Luxussanierungen wahrgenommen werden.

Raven Kirchner

Raven Kirchner möchte aus der Groko raus, damit die Partei sich in der Opposition erneuern kann.

(Foto: Privat)

Als positives Beispiel ist hier mein Unterbezirk Frankfurt zu nennen, der sich nach Jahren der erfolglosen Selbstbeschäftigung auf die für die Stadt aktuell relevanten Themen konzentriert und mit dem Oberbürgermeister Feldmann und der Beteiligung an der Stadtregierung konsequent für den Schutz der Mieterinnen und Mieter, den Bau neuer Wohnungen und die Verbesserung des ÖPNV einsetzt. Frankfurt muss deshalb Vorbild einer internen Erneuerung sein.

Bei der Stange bleiben

Heinrich Führmann (74), war Gewerkschafter und ist Mitglied im SPD-Ortsverein Garching

Ich denke, die SPD sollte pragmatisch vorgehen. Zur Mitte der Legislaturperiode will die SPD evaluieren, was erreicht worden ist. Um nicht in Aktionismus zu verfallen, sollte die SPD bei der Stange bleiben. Durch die Landtagswahlen verändert sich ja nicht die Legitimation im Bund. Die Partei sollte wie geplant fortfahren, aber zur Halbzeit eine ehrliche, offene Analyse der bisherigen Arbeit vornehmen und daraus die Konsequenzen ziehen. Ich gehe allerdings davon aus, dass es letztlich zur Auflösung der Groko kommen muss.

Die SPD muss sich verändern. Aber eine Umgestaltung sollte jetzt nicht unter Druck geschehen. Das war ein Fehler, als Martin Schulz zum Spitzenkandidaten gemacht wurde. Alle waren trunken vor Glück, einen gefunden zu haben, ohne darüber nachzudenken, ob er wirklich der richtige Mann als Kanzlerkandidat ist.

SPD-Streitgespräch

"Die SPD könnte jetzt von den Grünen lernen." Heinz Führmann ist dafür, jetzt noch nicht über die Groko zu entscheiden.

(Foto: Daniel Hofer)

Dass die Wahlen in Bayern und Hessen Konsequenzen für die Bundes-SPD haben sollen, wird, glaube ich, herbeigeredet. Die SPD hat im Bund Verantwortung übernommen, und sollte sich jetzt nicht aus dem Staub machen. Es gibt sicher Menschen, die der SPD-Führung dann vorwerfen, sie hätten kalte Füße bekommen und würden wieder nur parteitaktisch handeln.

Die SPD könnte jetzt von den Grünen lernen. Die haben ihre Themen und eine Führungsspitze ohne offenen Streit und Taktieren gefunden. Insbesondere die führenden Politiker der Groko beschäftigten sich viel zu sehr mit sich selbst, statt wichtige Zukunftsthemen anzugehen, die den Menschen auf den Nägeln brennen, wie zum Beispiel sichere Rente, befristete Arbeitsverträge, Scheinselbstständigkeit, flexible Verfügbarkeit und so weiter - alles Ur-Anliegen der Sozialdemokratie.

Eine Erneuerung der Volksparteien kann meines Ermessen bereits in Kommunal- und Länderparlamenten geschehen - und geschieht bereits -, in denen gute Politik gemacht wird. Das sehe ich als eine Chance, "von unten" zu erneuern. ("Wenn Du die Welt verändern willst, fang bei dir an ...")

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