Nach den Anschlägen von Paris:"Molenbeek ist kein Ghetto, glauben Sie mir!"

Nach den Anschlägen von Paris: Molenbeek, geschrieben mit einem Friedenszeichen als "O": Viele Bewohner wünschen sich, dass in dem Vorort wieder Frieden einkehrt. Der Ort sei nicht so schlimm wie sein Ruf, sagt der Leiter eines Jugendhauses.

Molenbeek, geschrieben mit einem Friedenszeichen als "O": Viele Bewohner wünschen sich, dass in dem Vorort wieder Frieden einkehrt. Der Ort sei nicht so schlimm wie sein Ruf, sagt der Leiter eines Jugendhauses.

(Foto: AP)

Johan Leman, 69, leitet das Jugendhaus "Foyer" in Molenbeek. Seit vierzig Jahren lebt der Migrationsforscher in dem Brüsseler Vorort, der seit den Anschlägen von Paris in den Schlagzeilen ist. Mindestens drei Attentäter stammten von dort, darunter Abdelhamid Abaaoud, der am Donnerstag getötete Drahtzieher der Anschläge. Nach islamistischen Attacken führten auch in der Vergangenheit wiederholt Spuren nach Molenbeek, zum Beispiel nach den vereitelten Anschlägen in Verviers in Januar und auf einen Thalys-Zug von im August.

Von Paul Munzinger

Herr Leman, Medien haben Molenbeek als "Terrornest", als "Drehkreuz der Dschihadisten" oder als "Islamisten-Brennpunkt" bezeichnet. Der streitbare Publizist Eric Zemmour hat gar gefordert, Frankreich sollte nicht die IS-Hochburg Raqqa in Syrien bombardieren, sondern Molenbeek. Ist das Viertel so schlecht wie sein Ruf?

Absolut nicht. Als ich die Aussagen von Zemmour gehört habe, dachte ich: Hoffentlich provoziert er nur. Wenn nicht, sollte man ihn in die Psychiatrie einweisen lassen. Natürlich gibt es Probleme in Molenbeek, aber die müssen wir ruhig und strukturiert analysieren, sonst werden wir sie nicht lösen und nichts daraus lernen. Schuldzuweisungen sind nicht der richtige Ansatz.

Umgerechnet auf die Einwohnerzahl ziehen aus keinem westlichen Land so viele junge Muslime in den Dschihad wie aus Belgien. Und noch einmal besonders viele aus Molenbeek. Warum ausgerechnet dieser Vorort?

Darauf gibt es keine einfache Antwort. Molenbeek ist arm, aber kein Ghetto, glauben Sie mir. Die Bevölkerung ist enorm gewachsen in den vergangenen Jahrzehnten. Als ich 1975 nach Molenbeek zog, lebten hier 75 000 Menschen. Heute sind es fast 100 000. Jeder zweite ist unter 30. Viele haben keine Arbeit, keine Zukunft. Wenn sich 25 Menschen auf eine Stelle in Brüssel bewerben, dann wird jemand, der Raschid heißt und aus Molenbeek kommt, als Erstes aussortiert. Und wer es schafft, der verlässt Molenbeek.

Johan Leman, leitet Jugendhaus Foyer in Molenbeek

Johan Leman leitet das Jugendhaus "Foyer" in Molenbeek, er ist gelernter Anthropologe und Migrationsforscher.

(Foto: privat)

Einen hohen Migrantenanteil und hohe Arbeitslosigkeit gibt es auch in anderen Städten Europas.

Damit kommen wir zum zweiten Teil des Problems. Es gibt hier eine Tradition der Mobilisierung für den Dschihad. Sie gibt es schon seit den 1990er Jahren, aber die Politik hat dagegen nichts unternommen. Angefangen hat das in der Moschee des syrischen Dschihadisten Ayashi Bassam. Dort wurde zum Beispiel der Mord an Ahmad Schah Massoud in Afghanistan 2001 vorbereitet. Bassam war aus Frankreich ausgewiesen worden und hatte sich in Brüssel niedergelassen. Es gab Warnungen, dass im Umfeld dieser Moschee etwas Unnormales passierte. Aber Belgien hat sich darauf verlassen, dass der französische Geheimdienst an Bassam dranbleibt. Diese falsche Strategie setzt sich bis heute fort. Der französische und der belgische Geheimdienst kooperieren nicht richtig. Sie verharren in den Grenzen ihrer Länder. Doch der "Islamische Staat" hält sich nicht an unsere Grenzen. Wenn er einen Anschlag in Paris vorbereitet, dann bezieht er Brüssel in die Planung wie selbstverständlich mit ein.

Offenbar findet er dort gute Bedingungen vor.

Ja, weil die Politik weggeschaut hat. Weil man mindestens eine, vielleicht zwei Islamisten-Zellen einfach hat arbeiten, rekrutieren lassen. Weil man völlig unterschätzt hat, wie dynamisch der IS ist. Wir müssen uns die Zahlen genauer anschauen: Aus ganz Brüssel sind, soweit man weiß, 141 Personen nach Syrien aufgebrochen, um sich dem Dschihad anzuschließen. 48 von ihnen kommen aus Molenbeek. Das ist eine hohe Zahl, gewiss. Aber verglichen mit den anderen Stadtbezirken ist sie nicht überproportional hoch. Es gibt hier ein Phänomen: Wenn irgendetwas schief läuft in Brüssel, dann heißt es sofort: Das war in Molenbeek. Das wird gar nicht mehr überprüft.

Das heißt, die Situation ist gar nicht so schlimm?

Nochmal: Ich sage nicht, dass keine Dschihadisten von hierher kommen. Aber die Behauptung, das hier sei ein Terrornest, wird 99 Prozent der Bewohner nicht gerecht. Sie leiden ja selbst am meisten unter der Stigmatisierung.

Eine Geschichte von zwei Freunden - der eine ging nach Syrien

Wie versuchen die radikalen Prediger, junge Leute auf ihre Seite zu ziehen?

Sie sprechen gezielt zwei Gruppen an: Zum einen die Kleinkriminellen, Drogengendealer vor allem. So einer war auch Abdelhamid Abaaoud, der jetzt in Saint-Denis getötet wurde. Das sind meiner Meinung nach die gefährlichsten. Die zweite Gruppe sind Jugendliche. SIe sind auf der Suche und deshalb leicht verführbar. Und sie haben keine Arbeit und keine Perspektive. Sie werden in Bars und Cafés oder auf der Straße angesprochen. Man macht ihnen ein schlechtes Gewissen. Man sagt sie seien Sünder, wenn sie Alkohol trinken. Dann fragt man sie, wie sie das Leid der Muslime in der Welt tatenlos mitansehen können. Schließlich zeigt man ihnen einen Weg, wie sie auf einen Schlag wieder ein guter Muslim werden können: indem sie nach Syrien gehen.

Kannten Sie junge Menschen, die das getan haben?

Ja. Da waren zwei Freunde. Beide haben in einem bestimmten Moment ihres Lebens begonnen, nach dem wahren Islam zu suchen. Der eine ist dann in Kontakt mit Salafisten gekommen. Von einem Tag auf den anderen hat er den Kontakt mit unserem Jugendhaus abgebrochen. Er hat keinem mehr die Hand geschüttelt. Er wollte keine Musik mehr, das sei haram. Irgendwann haben ihm sogar die eigenen Leute gesagt, dass er nicht übertreiben soll. Und er mäßigte sich tatsächlich. Er hatte also Glück, er ist gewissermaßen an die friedlichen Salafisten geraten.

Und der andere Freund?

Der ging auf eine Koranschule in Marokko. Als er zurückkam, sah ich sofort, dass sich etwas verändert hatte, nicht nur deshalb, weil sein Bart länger war. Ich fragte ihn, was los sei. Nichts, sagte er. Ein paar Tage später hörte ich, dass er in Syrien sei. Sein Freund sagte zu mir: Ich habe die richtigen Leute getroffen, er die falschen.

Was müsste der Staat also tun?

Es muss besser kontrolliert werden, was in den Moscheen gepredigt wird. Dort wird zwar nicht direkt rekrutiert, aber womöglich wird dort die Grundlage für eine Radikalisierung gelegt. Wir müssen härter gegen Hassprediger vorgehen.

Dann stimmen sie dem belgischen Innenminister Jan Jambon zu? Der hat angekündigt, Molenbeek persönlich "reinigen" zu wollen, man müsse "die Wurzeln ziehen".

Im Gegenteil. Was ich Herrn Jambon sagen würde, wenn ich treffe: Sagen Sie das nie wieder! Nicolas Sarkozy hat vor zehn Jahren ja fast das Gleiche gesagt: Dass man einmal mit dem Kärcher durch die Banlieues gehen müsse. Heute sehen wir, was das gebracht hat. Ich war heute Morgen mit einer Gruppe muslimischer Frauen zum Essen verabredet. Die haben die Aussage Jambons so verstanden: Er hält uns also für schmutzig. So gewinnst du sie nicht für deine Sache. Man braucht die Unterstützung der Bevölkerung, wenn man hart gegen die Hassprediger durchgreifen will. Mit pauschalen Anfeindungen wie von Jambon geht das nicht. Man muss den Menschen klar machen, dass das Vorgehen nicht gegen sie gerichtet ist, auch nicht gegen den Islam. Man muss ihnen zeigen, dass man auf ihrer Seite steht, dann werden sie mitziehen. Nach unserem Essen sind die muslimischen Frauen übrigens mit der Tram zur französischen Botschaft gefahren.

Was haben sie da getan?

Sie haben Blumen für die Terroropfer abgelegt. Sie trauern.

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