Nach dem Militärputsch in der Türkei:Die Angst tritt aus dem Schatten

Ulucanlar-Gefängnis in Ankara

Heute ein Museum: Das Ulucanlar-Gefängnis in Ankara, in dem politische Gegner nach dem Militärputsch 1980 inhaftiert oder hingerichtet wurden.

(Foto: Mike Szymanski)

Massenverhaftungen, Entlassungen, Todesstrafe - der Putschversuch in der Türkei weckt das Trauma des Militärcoups von 1980. Besuch in einem Foltergefängnis mit damaligen Opfern.

Von Mike Szymanski, Ankara

Die Ratten sind da. Ein Glück, findet Hüseyin Esentürk. War ja kein Hotel, das Ulucanlar-Gefängnis in Ankara. Esentürk freut sich richtig, als er durch den Schlitz in der Gefängnistür die Nager sieht. Es sind keine echten Ratten. Nur Nachbildungen auf dem Zellenboden. Ratten würden nichts mehr zu fressen finden. Alles ist sauber, klinisch rein, seitdem dieser Knast in ein Museum umgewandelt worden ist.

Esentürk kennt diesen Ort noch, als überall Schlamm auf dem Boden lag. Essen gab es einmal am Tag. Es wurde den Gefangenen hingeworfen als wären sie Tiere. Aus Lautsprechern kommen nun Stimmen vom Band. Ein Mann fleht: "Lasst mich raus! Ist da draußen denn niemand?" Man hört auch Schläge. Esentürk hört genau hin. "Mit dem Stock auf nackte Fußsohlen", sagt er. Er weiß, wovon er spricht.

Hüseyin Esentürk muss nicht alleine durch die dunkle Vergangenheit. Cumhur Yavuz begleitet ihn. Die beiden Männer sind Leidensgenossen. Yavuz hat nie im Ulucanlar-Gefängnis gesessen. Aber er sollte hier sterben. Im Hof steht noch der Galgen, an dem sie ihn aufhängen wollten. Yavuz braucht jetzt erst mal eine Zigarette.

Esentürk und Yavuz wissen sehr gut, was ein Putsch in der Türkei bedeutet, wie er das Land verändert. Sie sind Opfer des Militärputsches vom 12. September 1980. Damals übernahm das Militär die Macht im Land unter General Kenan Evren, dem späteren Staatspräsidenten. Rivalisierende rechte und linke Gruppen hatten die Türkei mit ihren Kämpfen an den Rand eines Bürgerkrieges geführt. Esentürk und Yavuz waren Linke. Sie sollten büßen.

Esentürk bekam sechs Jahre aufgebrummt. Ein paar Monate der Strafe saß er im Ulucanlar-Gefängnis ab. Auf Yavuz wartete die Todesstrafe. Sie standen damals auf der falschen Seite. Sie dachten, diese düsteren Zeiten ließen sich vielleicht in einem Gefängnis-Museum wegsperren. Aber dem ist nicht so.

Seit dem 15. Juli 2016 ist der Putschgeist wieder frei. An diesem Abend versuchten Teile des Militärs, Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan und seine islamisch-konservative Regierung zu stürzen. Erfolglos - aber der Versuch hat gezeigt, dass das Land sein Putschtrauma von 1980 längst nicht überwunden hat. Heute erinnert so schrecklich vieles an damals.

Schlafen im Gefängnis - damals nur in Schichten möglich

Esentürk stand in der Juli-Nacht auf seinem Balkon in Ankara. Er konnte zuschauen, wie die Kampfflieger das Parlament beschossen. Fast 300 Menschen starben in dieser Nacht. Ihm wurde ganz anders. "Ich habe Angst gehabt", sagt er. Alles kam wieder hoch. Würden die Putschisten ihn wieder holen? Diese Frage stellte er sich tatsächlich. "Für mich bedeutet ein Putsch immer Unterdrückung, Folter und Tod. Die Putschisten haben die Waffen. Sie haben die Macht", sagt er.

Ulucanlar-Gefängnis in Ankara

"Für mich bedeutet ein Putsch immer Unterdrückung, Folger und Tod": Hüseyin Esentürk war im Ulucanlar-Gefängnis inhaftiert.

(Foto: Mike Szymanski)

1980 verhängte das Militär das Kriegsrecht übers Land. Parteien, Gewerkschaften und Stiftungen wurden verboten. Mehr als 500 Menschen wurden zum Tode verurteilt, einer von ihnen war Yavuz. Unter Folter starben mindestens 171 Menschen. 14 000 Türken wurde die Staatsangehörigkeit entzogen und 30 000 flohen ins europäische Exil.

Esentürk teilte sich den Schlafsaal mit 230 Insassen, ausgelegt war er eigentlich für 70. Geschlafen wurde in Schichten. Wenn am Ende des Zellentraktes die Tür aufgeht, weil heute Besucher hereinkommen, sieht es tatsächlich so aus, als ob sich der Himmel öffnet. Damals blieb es dunkel.

"Man hat uns gebrochen"

Und heute? Die Regierung hat die Putschisten in Sammellager zusammengepfercht. Bilder von bis auf die Unterhose ausgezogenen Soldaten wandern durch Internet und Medien. Es gibt die ersten Berichte, dass die Gefängnisse überbelegt seien. Wieder stehen Foltervorwürfe im Raum. Die Regierung bestreitet, dass die Gefangenen misshandelt würden. Aber die mutmaßlichen Putschanführer wurden der Presse mit ihren Verletzungen präsentiert.

Esentürk muss an seine Zeit im Gefängnis denken. Der Geist von Ulucanlar? "Schmerz", sagt er. Ihm geht der Schlamm als Sinnbild nicht aus dem Kopf. Er hatte alles geschluckt. Esentürk und Yavuz arbeiten in einem Verein zusammen, der über den 80er-Jahre-Putsch aufklärt, damit so etwas nie wieder passiert. Sie waren junge Männer, als sie weggesperrt wurden. "Man hat uns gebrochen", sagt Esentürk. "Sie haben uns unsere Zukunft genommen."

Ulucanlar-Gefängnis in Ankara

Cumhur Yavuz vor dem Galgen in Ulucanlar-Gefängnis, an dem er sterben sollte.

(Foto: Mike Szymanski)

Der Putsch von 1980 wirft Schatten bis ins Jahr 2016. Esentürk sagt: "Die türkische Gesellschaft hat nie mit dem Putsch von damals abgerechnet, nie wirklich abgeschlossen." Die türkische Verfassung, mit der Erdoğan und die von ihm gegründete islamisch-konservative AKP regieren, stammt noch aus diesen Putschzeiten. Die Zehn-Prozent-Hürde bei Wahlen, ist ein Erbe dieser Jahre. Das Land hatte sich seine Freiheit nie zurückgeholt.

Bei ihrem Rundgang durch das Gefängnis-Museum führen sie an alten Zeitungsartikeln aus putschbewegten Zeiten vorbei, die gerahmt an der Wand hängen. "Todesstrafe vollstreckt", lautet eine der Schlagzeilen. Der letzte Mensch, der durch ein Todesurteil starb, war der Häftling Hıdır Aslan, ein Linksextremist, der drei Polizisten getötet hatte. Das war im Oktober 1984. Europa protestierte heftig.

Leute schreien "Idam"

Das dürfte Yavuz wohl das Leben gerettet haben. Sein Todesurteil wurde danach jedenfalls in eine Haftstrafe umgewandelt. Zehn Jahre, acht Monate und 26 Tage habe er gesessen, 1991 kam er frei, erzählt er. Er sei auf Bewährung draußen, sie laufe aber noch bis zum Jahr 2027.

Abgeschafft wurde die Todesstrafe in der Türkei 2004. Das türkische Wort für Todesstrafe ist Idam. Man hört es jetzt wieder auf den Straßen in Ankara und Istanbul. Die Leute schreien es heraus. Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan sagte, wenn das Parlament einen Gesetzentwurf zur Wiedereinführung der Todesstrafe vorlegt - an ihm werde das nicht scheitern. Die Putschisten auch noch "füttern?", fragte Erdoğan. So hatte damals der Putschgeneral Evren schon geredet.

Im Ulucanlar-Gefängnis steht der Original-Galgen. Ein Dreibein aus Holz, darunter ein Hocker. Das Tötungsgerät ist eingesperrt in einem Metallkäfig. Die Besucher - es kommen vor allem viele junge Türken - machen Selfies vor dieser gruseligen Kulisse. Holt bald jemand den Schlüssel und befreit das Biest?

"Das darf niemals passieren", sagt Yavuz. "Ich habe immer sitzend auf den Tod gewartet. Ich habe jeden Moment gedacht, jetzt kommen sie, um mich zu holen." Er ist entkommen. Nun ist die Angst zurück.

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