Nach dem Massaker von Norwegen:Wie die Angst vor der Islamisierung Europa bedroht

Der Attentäter Breivik ist Christ, doch die Ähnlichkeiten zwischen ihm und dem Terror aus dem muslimischen Orient sind evident. Trotzdem spricht keiner von christlichem Terrorismus. Das ist gut, nur sollte endlich keiner mehr Attentate, die Muslime begehen, "islamischen Terrorismus" nennen.

Thorbjørn Jagland

Seit den Anschlägen in Oslo und Utøya haben mich unzählige Journalisten gefragt: Was wird geschehen in Norwegen? Werden wir das Land nach all dem noch wiedererkennen können? Und könne Ähnliches auch in anderen Ländern passieren?

Nach dem Massaker von Norwegen: Norwegen gedenkt der Opfer des Doppelanschlags.

Norwegen gedenkt der Opfer des Doppelanschlags.

(Foto: AP)

Ich habe dann zunächst geantwortet, dass Norwegen wiedererkennbar bleiben wird. Norwegen wird eine offene Gesellschaft bleiben, gekennzeichnet von Toleranz und dem Kampf für Menschenrechte und Frieden. Das glaube ich immer noch. Doch als ich mehr über den Terroristen erfuhr, begann ich hinzuzufügen: Ich hoffe auch, dass Norwegen nicht mehr unverändert so sein wird wie zuvor. Wir müssen uns stärker darüber bewusst werden, was Terrorismus ist, woher er kommt und - nicht zuletzt - wie wir über ihn sprechen.

Nach all dem sollte es zum Beispiel nicht mehr möglich sein, Attentate, die Muslime begehen, "islamischen Terrorismus" zu nennen. Im Traum würde niemand darauf kommen, Breivik als christlichen Terroristen zu bezeichnen, bloß weil er sich selber als Christen sieht. Nie haben wir die Gewalt der IRA in Nordirland christlich genannt. Die Taten von Muslimen aber haben wir sofort mit dem Islam als Religion verbunden; der Begriff vom radikalen Islam blühte in der norwegischen Debatte. Aber steht Breivik für ein radikales Christentum?

Nein, das tut er nicht. Wir müssen also als Erstes die Religion von dieser Last befreien: Weder im Christentum noch im Islam gibt es irgendetwas, das Terrorismus rechtfertigt. Wenn Religionen trotzdem als potentiell terroristisch beschrieben werden, dann fördert das die Kreuzzugsmentalität. Wenn wir, allein durch den Wortgebrauch, den Islam mit Terrorismus verbinden, polarisieren wir die Debatte; die Angst vor Muslimen und vor der Islamisierung sind die Folge. Wie in einem Albtraum galoppiert diese Angst durch Europa - dies ist für mich die größte innere Bedrohung, vor der wir stehen.

Breivik ist nicht anders als Hitler

Politiker reden davon, dass der Multikulturalismus gescheitert sei; überflüssig zu sagen, dass die Konsequenz dieser Sichtweise letztlich bedeutet, dass Muslime und andere, die sich nicht anpassen, zu gehen hätten. Ein französischer Minister hat sogar schon gesagt, man könne kaum noch Bus fahren - wegen all dieser Muslime. Was wollte er damit erreichen? Für jemanden wie Breivik ist das eine Einladung, die Antwort zu geben, die er gegeben hat. Breivik sieht sich als idealistischer Retter. Er tötet, um uns alle vor der muslimischen Gefahr zu retten.

Ich lese, dass manche Ermittler sagen, man sollte Breivik nicht mit den alten Radikalismus-Theorien kategorisieren - weil er sich von Hitler distanziert, weil er Sympathie für Israel zeigt. Aber doch: Er ist nicht anders als Hitler. Er würde, wenn er könnte, Europa in gleicher Weise von Muslimen säubern, wie Hitler Europa "judenfrei" machen wollte.

Es sind auch die Ähnlichkeiten zwischen Breiviks Terror und dem aus dem muslimischen Orient evident. Breivik und al-Qaida treibt dieselbe Vision: die eigene Welt von Eindringlingen zu befreien. Auch die Methoden sind die gleichen, die mitleidlose Gewalt, auch gegen diejenigen der eigenen Gemeinschaft, die man als Verräter sieht. Es sind ja in den muslimischen Ländern viel mehr Muslime dieser Form der Gewalt zum Opfer gefallen als Ausländer - und auch Breivik attackierte keine Muslime, sondern jene, die dafür waren, dass Muslime hier leben.

Der Multikulturalismus ist hier, um zu bleiben

So lasst uns die Religion von den Kreuzzüglern befreien; verhindern wir, dass sie sich durch unseren Sprachgebrauch mit der Religion verbinden können! Alle religiösen Führer, die für die Versöhnung der Religionen arbeiten, müssen sich gegenseitig unterstützen und ermutigen. Auch die Politiker müssen mehr Verantwortung übernehmen. Deshalb hatte ich als Generalsekretär des Europarats eine "Gruppe der Weisen" einberufen, um zu analysieren, wie wir in einer multikulturellen Welt zusammenleben können, geleitet vom ehemaligen deutschen Außenminister Joschka Fischer. Zahlreiche europäische Hauptstädte habe ich mit der Gruppe besucht, um deren Bericht "Zusammenleben im Europa des 21. Jahrhunderts" vorzustellen.

Es hat mich getroffen, wie viel Gewicht alle Gesprächspartner der Verantwortung von Politikern und Medien gaben, wie sehr sie deren Verantwortung betonten, den Menschen die Wirklichkeit zu erklären: Der Multikulturalismus ist hier, um zu bleiben; Europa war schon immer ein Kontinent der vielen Religionen und Ethnien. Und immer, wenn wir es nicht schafften, damit zu leben, führte dies zu den furchtbarsten Katastrophen. Wir müssen deshalb Multikulturalität nicht nur hinnehmen. Wir müssen unsere Denkweisen, unsere Mentalität ändern: Wir müssen die Vorteile aus unserer Verschiedenheit sehen lernen.

Ich bin auch dafür eingetreten, das europäische Sicherheitskonzept zu erweitern, das sich vor allem auf militärische Dinge fokussiert. Ich habe dies die "tiefe Sicherheit" genannt; sie hängt davon ab, wie wir zusammenleben können, ohne dass Konflikte eskalieren. Eine solche Sicherheit ist tief in der Gesellschaft verankert. Die Basis dafür sind die Werte, die uns alle in Europa verbinden, niedergelegt in der europäischen Menschenrechtskonvention. Rechte enthalten sie und Pflichten: Du hast das Recht, deine religiöse und ethnische Identität zu wahren. Aber du hast die Pflicht, die gemeinsamen europäischen Werte zu achten.

Nationalismus in neuer Form

Europa hat eine Warnung aus Norwegen erhalten. Wahrscheinlich hat Breivik alleine gehandelt, ich fürchte aber, er hat einen Trend gesetzt. Während wir alle eifrig über Muslime und radikalen Islam geredet haben, hat dieser Trend sich in aller Stille geformt. Wir sehen einen Nationalismus in neuer Form, aber auch für ihn gilt das alte Sprichwort: Nationalismus ist von Übel und führt zu Übel.

Bundeskanzlerin Angela Merkel hat etwas sehr Wichtiges gesagt: Ausländerhass ist eine europäische Herausforderung. Und deshalb ist es auch richtig, dass Norwegens Premierminister Jens Stoltenberg exakt das gegenteilige Zeichen gesetzt hat als der amerikanische Präsident George W. Bush nach dem 11. September 2001. Dessen Botschaft der Vergeltung war: Sei für mich, oder du bist gegen mich. Das hat die Welt gespalten.

Sein Nachfolger Barack Obama erhielt auch deshalb den Friedensnobelpreis, weil er sofort begann, Brücken zu bauen. Europa sollte dem Kurs Stoltenbergs folgen, Brücken in der Gesellschaft zu bauen, unterstützt durch unsere demokratischen Institutionen. Breivik können wir nicht ändern. Unsere Sicherheit aber liegt in den menschlichen Beziehungen, die aufzubauen wir fähig sind.

Der Norweger Thorbjørn Jagland, 60, ist Generalsekretär des Europarats und leitet in Oslo das Komitee, das den Friedensnobelpreis vergibt. (Übersetzung: Matthias Drobinski)

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