Nach dem Brexit:Jetzt braucht die EU eine Generalrevision

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In London protestieren Briten gegen den Ausgang des Brexit-Referendums. (Foto: Bloomberg)

Die Kluft zwischen Bürgern und europäischen Institutionen scheint unüberwindbar. Die Union muss ihre Politik so grundlegend überprüfen, wie sie das seit 1957 nicht getan hat.

Kommentar von Stefan Kornelius

Die Briten haben sich nicht erst in den vergangenen Monaten entschieden, die Europäische Union misstrauisch zu betrachten. Tatsächlich gehört ihre Skepsis zum Beitrittspaket, das sie 1973 in die Europäische Gemeinschaft von damals neun Staaten einbrachten.

Für diese Distanz gibt es viele gute und nachvollziehbare Gründe. Der wichtigste ist die lange währende demokratische Tradition, die England und später dem Vereinigten Königreich Sicherheit und gesellschaftliche Stabilität gebracht haben. Diese Tradition ist untrennbar mit dem Parlament in Westminster verbunden. So wie auch die USA ihre Souveränität für unteilbar halten, so ist es den Briten nur schwer verständlich gewesen, warum sie Rechte und Gesetze von Institutionen akzeptieren und kontrollieren lassen sollen, über die sie selbst nicht die volle, souveräne Kontrolle ausüben können. Dieses Selbstbewusstsein wurzelt im 13. Jahrhundert - keine Nation auf der Erde kann diese britische Befindlichkeit überbieten.

Ein Fanal, das in aller Welt Eindruck hinterlassen wird

Es ist das Verständnis von Souveränität, das am Ende Großbritannien von vielen Nationen in Europa unterscheidet, vor allem von Deutschland. Die Gemeinschaft der Staaten Europas ist dem Bedürfnis immer entgegengekommen, indem sie den Briten Sonderrechte zugestand wie keinem anderen Land.

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Von Thorsten Denkler

Über die Umstände des Austrittsreferendums kann man lange klagen. Man kann David Camerons politische Spielernatur geißeln, die demagogische, falsche Art eines Nigel Farage, die unentschlossene, taktierende Haltung von Labour. All das ändert nichts am historischen Urteil der Mehrheit der Briten, in dem sich mehr spiegelt als eine populistische Verführung. In ihm drückt sich das Unwohlsein mit einer Institution aus, das sich seit 40 Jahren hartnäckig hält.

Europa und die Welt haben sich in diesen 40 Jahren dramatisch verändert. Nicht verändert haben sich die beiden großen Gründungsmotive für die Staatengemeinschaft: Frieden und Wohlstand. Während die Unterzeichner der Römischen Verträge 1957 aus der Erfahrung zweier Weltkriege handelten und dem Kontinent ein für allemal die Kriegslogik austreiben wollten, verschob sich die Begründung im Laufe der Zeit. Beherrschend ist heute das Verständnis von der ökonomischen Gestaltungsmacht Europa.

Die Welt öffnete sich, die Globalisierung bestimmt die Taktzahl von Gesellschaften, von Korea bis Kolumbien. Die EU ist in diesem Konzert von 200 Nationen ein einflussreicher und beispielsetzender Mitspieler. Europas Werte, die Kraft europäischen Rechts, die vorbildliche Kompromissfindung zwischen 28 Staaten machen den Kontinent stark und attraktiv. Sie machen ihn auch zu einem Hort vergleichsweise hoher Sicherheit und Stabilität. Europa scheint das freilich nur zu bemerken, wenn - wie nach dem britischen Referendum jetzt - die Konstruktion wankt.

Die Briten sehen die Sache mit der Stabilität offenbar anders und setzen mit ihrem Austrittsbeschluss ein Fanal, das in aller Welt Eindruck hinterlassen wird. Die Entscheidung wird starke Kräfte in der EU entfesseln, die den Briten nacheifern wollen und in der Union der 28 mehr Bürde als Vorteil sehen. Marine Le Pen wird im französischen Präsidentschaftswahlkampf ganz mit antieuropäischer and fremdenfeindlicher Stimmung spielen - möglicherweise erfolgreich. Der weitere Zerfall der EU ist also ein gar nicht so unrealistisches Szenario. Der Zerfall des Vereinigten Königreichs auch nicht.

Es ist nicht leicht, die entfesselten Kräfte wieder unter Kontrolle zu bekommen, auch wenn jetzt viel Papier beschrieben, Symposien besetzt und Grundsatzreden gehalten werden. Bezeichnend ist, wie die Lügengespinste der Brexit-Verfechter bei den Wählern akzeptiert wurden - und wie schwer es war, ein positives, packendes Bild von Europa zu zeichnen. Die emotionale Kluft zwischen den Bürgern und den europäischen Institutionen scheint unüberwindbar zu sein.

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Das Brexit-Lager hatte dazu aufgerufen, die Kontrolle wiederzugewinnen. "Take back control" ist natürlich ein perfider Schlachtruf, weil er mit zwei Unterstellungen arbeitet. Erstens, dass die Briten (und eigentlich auch alle anderen Nationen) die Kontrolle verloren hätten, also ferngesteuert von finsteren Mächten ihr Dasein fristeten. Und zweitens, dass es dem Land besser ginge, wenn es seine Souveränität radikal ausüben könne. Beide Unterstellungen sind falsch, aber sie verfangen.

Fehlersuche in der EU

Wenn der restlichen Union an ihrem eigenen Erhalt gelegen sein sollte, muss sie das britische Votum nutzen, um ihre Politik so grundlegend zu überprüfen, wie sie das seit Gründung der EU nicht getan hat. Zu dieser Generalrevision gehört auch eine Fehlersuche, die etwa damit beginnen könnte, unter welchen Bedingungen die meisten der Mitglieder in die Gemeinschaft gekommen sind. Hier liegt eine der großen Quellen der Unzufriedenheit. Es sind vor allem die Gesellschaften der in den vergangenen 15 Jahren beigetretenen Nationen, die in der EU vornehmlich ein gewaltiges Subventionierungsorgan sehen und in ihrem wachsenden Nationalismus die gleichen Fragen nach Souveränität und Kontrolle stellen wie die Briten.

Die EU nimmt, aber sie zahlt auch mit Rendite zurück. Das ist die wichtigste Botschaft, die im Getöse der vergangenen Krisenjahre untergegangen ist. Damit sie wieder glaubhaft wird, ist es zwingend, diese Krisen aufzuarbeiten und daraus glaubwürdige Konsequenzen zu ziehen. Europa kann keine Problemfreiheit garantieren. Aber die Menschen wollen wissen, wie ihre gemeinsame Währung funktionieren soll, wenn ihr der politische Unterbau fehlt. Sie wollen wissen, wie Europa Flüchtenden helfen kann, ohne alle Darbenden dieser Welt anzuziehen. Europas Bürger wollen ein starkes und ein humanitäres Europa. Sie schätzen ihre grenzenlose Vielfalt und lieben dennoch ihr jeweiliges Land. Sie wollen zusammenrücken und schätzen doch den sicheren Abstand.

Vielleicht schafft das Brexit-Votum endlich die Krise, die den Europäern klarmacht, wie viel sie bereits von ihrem Auenland erreicht haben. Und wie leicht sie es wieder zerstören können.

© SZ vom 25.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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